ARD Tagesschau: Informationsfreies Leitmedium #flashback
Im Rückblick erst wird es deutlich: die Tagesschau ist informationsfrei.
Als Leitmedium soll sie zwar breite Bevölkerungsschichten ansprechen. Sie ist für Frau und Mann, alt und jung, für Lagerarbeiter wie Jurist wie Arzt wie Bäckereifachverkäuferin wie Geschäftsführer wie Professor wie Maurer gedacht. Die diverse Zuschauerschaft soll mit Informationen versorgt werden. Doch wozu?
Was sind Informationen? Die Tagesschau ist eine Nachrichtensendung. Wozu dienen Nachrichten dem Zuschauer? Er erfährt mit ihnen etwas vermittelt durch journalistische Filter, was er nicht hätte persönlich erleben können. Doch warum ist das 15 Minuten Aufmerksamkeit wert, für manche sogar konsequent jeden Tag?
Ich habe einen Selbstversuch gemacht und zwei alte Tagesschau-Sendungen angeschaut. Ganz bewusst habe ich Sendungen ausgesucht, zu denen der Abstand 50 Jahre bzw. 30 Jahre beträgt. Eine aktuelle Tagesschau könnte ich nicht für sich beurteilen; sie wäre zu sehr mit dem verwoben, was ich gerade erlebe oder über anderen Medien erfahre.
In den Sendungen ging es damals u.a. um…
Die Sicherung des Weltfriedens
Frankreich soll Kernwaffenversuche verschieben
Deutsch-französisches Gipfeltreffen
Zwischenfall an der deutsch-deutschen Grenze
Forderung stärkerer Unabhängigkeit von Schulen
Längster Aufenthalt eines Menschen im Weltraum endet
Sonia Ghandi lehnt Parteivorsitz ab
Kritik an Israel
In Äthiopien wird eine Lenin-Statue vom Sockel gekippt
Grenzzwischenfälle an Litauischer Grenze
Moskau besorgt über Verhaftung ehemaliger DDR-Funktionäre
Zwangsadoptionen in der DDR
“Marshall-Plan” für Osteuropa
Mehr Kriegsdienstverweigerer
Forderung eines Grundrechts auf angemessene Wohnung
Absturz einer Passagiermaschine in Leningrad
Und was bedeutet das alles? Was hat es damals bedeutet? Nichts. Davon gehört zu haben 1973 oder 1991 hat keinen Unterschied für Zuschauer gemacht. Niemand hat deshalb in seinem Leben etwas verändert.
Lediglich Emotionen wurden geschürt, vor allem Angst (Beiträge 1, 2, 4, 8, 10, 12, 16). Freude stand dem in keinem Beitrag gegenüber. Hier und da konnte höchstens ein wenig Hoffnung aufkeimen (Beiträge 1, 3, 5, 14, 13, 15), ansonsten Irrelevanz oder gar Verwirrung (Beiträge 6, 7, 9, 11).
15 Minuten Tagesschau sind zu vergleichen mit 15 Minuten Instagram: Dem Zuschauer präsentiert sich eine Abfolge von unbedeutenden Bildern. Was er sieht, wird von einer Instanz zusammengestellt, über die er keine Kontrolle hat.
Der Glaube, die Tagesschau — oder auch ein anderes Leitmedium — sei ein aufklärendes Medium und deshalb Staatsbürgerpflicht, sie täglich zu konsultieren, ist naiv.
Die Tagesschau bietet lediglich Konsum. Sie ist Entertainment der anderen Art. Das Gezeigte sind Ausschnitte aus der Realität, die mit einer medienschaffenden Agenda zusammengesetzt und kommentiert sind. Das Ergebnis: eine hübsche Geschichte der Welt. So, wie Netflix Serien hübsche Geschichten über die Welt erzählen.
Informationen hingegen sind etwas anderes. Ich mag den Informationsbegriff von Gregory Bateson:
Tatsächliche Informationen sind Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen, Unterschiede, die verändern.
Der erste Unterschied ist, dass der Zuschauer Daten hat, die er vorher nicht hatte. So weit, so gut.
Als zweiter Unterschied muss jedoch noch hinzutreten, dass diese nun vorhandenen Daten eine Veränderung in seinem Handeln oder Denken bewirken.
Ich sehe nicht, dass das der Fall jenseits platter Emotionen ist. Bei der Tagesschau geht es also um Erregung. Leitmedien sind Werkzeuge der Erregungssteuerung:
Zuerst sollen sie grundsätzlich beruhigen: “Du tust das Richtige! Du informierst dich. Und auch noch über ein Leitmedium. Sehr brav!”
Gleich darauf folgt die Aufregung: “Wenn du keine Angst, zumindest Unsicherheit spürst, dann weißt du noch zu wenig über die Welt. Lausche und lerne, wie gefährlich sie ist. Sei bereit!”
Und schließlich wieder Dämpfung: “Sei beruhigt! Wir zeigen dir auch, dass es Hoffnung gibt. Deine Regierung ist wachsam. Es sind ständig Menschen am Werk, die dafür sorgen, dass es für dich nicht zu schlimm kommt. Vertraue uns!”
Die klassische Tragödie lässt die Zuschauer auch durch ein Wechselbad der Gefühle waten; das tut sie mit fiktiven Geschichten. Die Tagesschau hat einen anderen Ansatz; sie benutzt Realitätsversatzstücke. Sie ist eine Form von “Reality TV”.
Beides ist legitim. Allerdings: Die Tragödie ist ehrlich; das Leitmedium ist es nicht. Das Leitmedium suggeriert dem naiven Zuschauer, dass es um etwas anderes ginge als Emotionssteuerung oder Entertainment. Das kann es jedoch gar nicht, weil ein Leitmedium qua Definition ein Massenmedium ist. Wenn das einer Dramaturgie folgt, die seine Redaktion bestimmt, kommt ein Drama, also eine Geschichte heraus. Und Geschichten dienen nicht der Information.
Mit dem Abstand von Jahrzehnten kann ich das klar erkennen. Wenn ich diese Erkenntnis dann auf die Gegenwart übertrage, bedeutet das: Auch heute ist die Tagesschau lediglich eine Entertainment-Sendung. Es mag sich anders anfühlen, es ist aber nicht anders.
Deshalb soll niemand aufhören, die Tagesschau oder ein anderes Leitmedium zu konsumieren. Ich gönne jedem seinen Spaß! Allerdings… man sollte sich auch nichts vormachen. Entertainment bleibt Entertainment. Geschichten bleiben Geschichten.