Bleiben ist überbewertet
Wenn ich die Klagen über die deutsche Politik höre, dann denke ich immer wieder: Warum ertragt ihr das denn noch? Was muss passieren, dass ihr sagt “Schluss!”? Falls ich diese Frage den Klagenden stelle, bekomme ich meistens zur Antwort: “Ja, was sollen wir denn tun? Mehr als friedlich demonstrieren, können wir nicht.”
Wirklich? Gibt es keine andere Möglichkeit, auf eine Regierung, die anhaltend nicht tut, was sich die Bürger, sogar ihre Wähler wünschen, zu reagieren?
In der Gründungsurkunde der USA wird sogar von einer Pflicht gesprochen, sich einer solchen Regierung zu entledigen. Nicht leichtfertig, nicht vorschnell, aber wenn die Missregierung anhält, dann geht es eben nicht anders:
“Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, […] Wenn aber eine lange Reihe von Mißhandlungen und gewaltsamen Eingriffen, auf einen und eben den Gegenstand unabläßig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt sie unter unumschränkte Herrschschaft zu bringen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen […]”, Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (Hervorhebung durch mich)
Eine Regierung ist Diener und nicht Herr im demokratischen Haus.
Ich verstehe, dass das eine große Nummer ist. Bevor sich dazu eine ausreichend kritische Masse in der Bevölkerung findet, braucht es Zeit und Energie. Ob es dazu heute noch kommen könnte… Ich weiß es nicht. Regierungen tun ja alles, um solche Zusammenrottungen geistig wie physisch im Keime zu ersticken.
Auf die anderen kann also kaum hoffen, wer sich ausdauernd beklagt. Was stattdessen tun?
Die Natur kennt drei Reaktionsmöglichkeiten: fight, flight, freeze.
Persönlich nicht aktiv zu werden und sich im Jammern einzurichten, scheint mir freeze zu entsprechen. Umso mehr, je stiller Frust, Unsicherheit, Angst ausgehalten werden.
Das kann man natürlich so machen — doch dass sich die Verhältnisse bessern, ist kaum anzunehmen. Der Sturm, der gerade heraufzieht, ist groß! Klimakrise und Demographiekatastrophe sind von sich aus lang laufende Prozesse, auf die Regierungen mit zunehmender Freiheitseinschränkung reagieren werden. Beides und was dazu noch künstlich durch Politik an Krisen produziert wird in Deutschland aussitzen, scheint mir eine Perspektive für ein auslaugendes Leben.
Ist fight dazu eine Alternative? Wie könnte aktive Auflehnung aussehen? Manche kleben sich auf Straßen — aber bringt es das wirklich? Oder sind friedliche Demonstrationen vor dem Rathaus fight Reaktionen? Nein.
Vielleicht finden sich früher oder später Einzelne oder auch kleine Gruppen, die zu Gewalt greifen, um das System zu ändern. Die RAF hat es in den 1970ern versucht — ist aber gescheitert. Und ob eine Rebellion größeren Ausmaßes wirklich etwas verändern könnte, weiß ich auch nicht. Allzu oft war eine Erleichterung nur kurzfristig. Neue Herrscher sind eben auch wieder Herrscher. Warum sollten sie ohne eine Revolution, d.h. einen Paradigmenwechsel, gar einen Kulturwandel besser sein, als die bisherigen?
Nein, ich glaube nicht mehr an den Wert von Umstürzen als Form der “Veränderung von innen”. Demonstrationen und Rebellionen haben keine nachhaltig positiven Folgen. (Dass es die Montagsdemonstrationen in der DDR waren, die zum Mauerfall geführt haben, glaube ich übrigens auch nicht.)
Was also nur bleibt ist… die Flucht, also flight. Wer dauerhaft und steigend frustriert ist, der sollte sich schlicht absetzen. Die Koffer packen und gehen.
Damit wird ein Zeichen gesetzt, das Regierende interpretieren können. Wer geht, kann zum Vorbild für andere werden. Und eine Flucht ist auch friedlich.
Ja, besser sich separieren als in einen Bürgerkrieg ziehen oder einfrieren.
Allemal der aufgeklärte Konsument im Westen sollte diese Reaktion oben auf seinem Zettel haben. Sie entspricht der Empfehlung, sich von Produkten und Produzenten abzuwenden, die den eigenen Werten nicht entsprechen. Wer Bio-Produkte will, wer meint, nur fair trade sei richtig oder ausbeuterische Verhältnisse in der Produktion seien schlecht, der entzieht seine Kaufkraft dem einen Anbieter und wendet sie dem anderen zu.
“Abstimmung mit den Füßen” bzw. “Abstimmung mit dem Geldbeutel” ist das probate Mittel in der Marktwirtschaft, um Veränderung zu bewirken.
Konsumenten versuchen nicht, Hersteller von innen her zu verändern. Das können sie gar nicht; sie gehören nicht zu ihrer Belegschaft. Ihnen bleibt also nur eine Reaktion außen. Wenn dort genügend “Aufmerksamkeit” in Form von Geld entzogen wird, wenn Kaufkraft abwandert… dann muss sich ein Hersteller ändern, um weiter an sein Lebenselixier zu kommen.
Voraussetzung dafür ist, dass die Konsumenten eine Alternative haben. Deshalb sind Monopole Gift für die Marktwirtschaft. Sie stehen Veränderung im Wege.
Allgemeiner ausgedrückt: Wo Freiheiten kollidieren — z.B. die Freiheit des Herstellers, seine Produkte nach seinem Gusto zu gestalten, und die Freiheit des Konsumenten, sich Produkte von bestimmter Qualität zu wünschen —, muss entweder ein Konsens gefunden werden — oder man muss sich von einander verabschieden. Sich aus dem Weg zu gehen, ist das beste Mittel, um Gewalt zu vermeiden.
Separatisten sind aus meiner Sicht deshalb ein Segen: Sie bestehen gar nicht darauf, dass andere ihre Meinung teilen, sondern wollen sich einfach nur entfernen und in Ruhe gelassen werden.
Menschen, die ein Regime verlassen, zetteln keinen Bürgerkrieg an. Ist das nicht gut? Flucht ist eine Form friedlichen Protests.
Ich denke, für eine ernst gemeinte Demokratie braucht es deshalb immer einen guten Teil der Bevölkerung, der bereit und fähig ist, das Land zu verlassen. Sie verstehen, dass es eben nicht immer ausreicht, darauf zu warten, dass Wahlen es irgendwie schon richten werden. Sie sind die “Demokratiereserve”, die sich ins Veränderungsfeld führt, wenn die üblichen Prozesse zur Korrektur versagen: dann stehen sie auf und stimmen mit den Füßen ab.
Dem darf eine Demokratie, die es ernst meint, auch keine Steine in den Weg legen. Sie muss es aushalten können, dass man sich von ihr abwendet, wie jeder Hersteller ertragen können muss, dass Kunden sein Produkt nicht mehr kaufen. Es gibt kein Recht auf ewigen Erfolg. Anpassungsfähigkeit ist bei Warenproduktion wie Regierungen nötig.
Deutschland zeigt allerdings auch in dieser Hinsicht, dass es mit der Demokratie nicht so weit her ist. Die gerade wieder verschärfte Wegzugsbesteuerung ist ein klares Signal an alle Bürger, dass man es nicht wünscht, dass sie sich auf und davon machen. Ausübung von Freiheit wird bestraft. Separation soll teuer zu stehen kommen.
Umso wichtiger scheint mir, dass jeder Bürger für sich selbst sorgt, um seine Mobilität zu erhalten. Wenn die Sicherung mal durchbrennt, wenn Regierungsverhalten nicht mehr erträglich ist…
…dann sollte es möglich sein aufzustehen und sich zu entfernen. Friedlich, aber bestimmt.
Insofern klingt flight für mich auch gar nicht passend. Es ist keine Flucht, sondern die erwachsene Ausübung einer völlig legitimen Freiheit, sich von dem zu trennen, was belastet. Es gibt keine Pflicht, auszuharren und auf Veränderung von innen zu warten. Auf Demos Plakate hochzuhalten, ist keine moralisch besonders wertvolle Handlung. Es gibt nur eine “Pflicht”: für sich selbst zu sorgen. Dazu gehört, unbekömmliche Verhältnisse zu verlassen.
Insofern war etwas Wahres dran an den Sprüchen früher in der BRD: “Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh’ doch in die DDR.” Genau! Und umgekehrt. Wem es nicht gefällt, andauernd nicht gefällt, der sollte irgendwann wirklich die Konsequenz ziehen und dorthin gehen, wo er meint, dass es besser sei. So sieht selbstverantwortliches, bewusstes Leben aus.
“Gehen oder bleiben?” Ich finde, Bleiben ist überbewertet. Deutschland braucht mehr Menschen, die bereit sind zu gehen. Es wird so viel geredet über die, die kommen sollen, und zu wenig darüber, dass es gute Gründe gibt zu gehen. Gerade junge Menschen sollten darauf achten, sich nicht zu sehr an Deutschland zu kleben. Dass junge Menschen sich in Klagen ergehen, finde ich unpassend. Zu ihnen passt besser die Bewegung, die Mobilität. Früher waren es die jungen Menschen, die rebelliert haben. Heute können es die jungen Menschen sein, die aufstehen und als erste gehen. Digitale Nomaden haben den Anfang gemacht. Wer folgt ihnen, um Veränderung im System durch persönliche Veränderung zu bewirken?