Charakterholzschnitte
Eines wird mir durch die Corona-Pandemie sehr klar: Sie wirft ein großes Schlaglicht auf Menschen. Deren Persönlichkeiten, deren Charaktere treten durch plötzlich sehr scharf kontouriert hervor. Ich nehme sie geradezu holzschnittartig wahr:
Natürlich vereinfach der Holzschnitt stark. Nuancen, Details fallen weg. Das wird Menschen nicht gerecht in ihrer Komplexität. Einerseits.
Denn andererseits steckt darin auch eine Konzentration: das Wesentliche tritt hervor. Das holzschnittartige Bild, das ich nun von anderen bekomme, ist wie ein Destillat. Was übrig bleibt nach der konstanten Erhitzung der Gemüter durch die Corona-Progapanda ist ihre Essenz.
Was das bedeutet, drückt für mich diese Sequenz aus der Netflix-Serie True Story sehr prägnant aus:
Mit dem Rücken zur Wand fallen die Masken weg. Die Menschen sind nicht mehr, wie sie gern sein wollen, sondern wie sie eben sind. Ihre Projektion bricht zusammen. Ihr Scheinselbst zerbröselt unter dem Druck der Angst.
Ob das Angst um Ihre Gesundheit ist oder Angst vor Freiheitsverlust oder Angst vor Armut, ist egal. Die Angst lässt die Menschen Dinge sagen und tun, die eine Seite ihrer Persönlichkeit offenbaren, die vor März 2020 nicht zu sehen war.
In Wohlstand und Freiheit der vorpandemischen Welt musste sich niemand wirklich, wirklich mit Werten auseinandersetzen. Oder wer sich augenscheinlich damit auseinandergesetzt hat, wurde nicht auf die Probe gestellt.
Normalbürger haben die Reparaturmedizin als selbstverständlich angenommen; Krankheit und Tod wurden auf Abstand außerhalb des Gesichtsfeldes gehalten. Arbeitslosigkeit war die größte Drohung.
Intellektuelle konnten von Freiheit oder der Notwendigkeit des Faschismus reden, ohne irgendeine Gefahr zu laufen, ihre Werte auch leben zu müssen.
Politiker haben ein wohlstandszufriedenes Wahlvolk gesehen, dass mit etwas Zuckerbrot und Spielen bei Laune gehalten werden konnte. Solange man seine Kreise nicht zu sehr störte, konnte man die eigene Karriere voranbringen.
Mit dieser Selbstzufriedenheit ist es aber nun vorbei. Die Pandemie deckt alle Lippenbekenntnisse auf. Die Pandemie zwingt jeden zur Stellungnahme in ganz grundlegenden Dingen.
Der Kern jedes Menschen wird unter Angst freigelegt. Was ist es, was er wirklich von sich und anderen denkt?
Und was da zutage kommt, ist in vielen Fällen leider nicht hübsch. Es ist geradzu hässlich und vor allem ganz anders als erwartet. Menschen, die ich früher für aufgeklärt, rational, gebildet, reflektiert gehalten habe, entpuppen sich als das Gegenteil. Mir erscheint das regelmäßig als Regression auf das Bewusstsein von Kleinkindern: rechthaberisch sind sie, trotzig sind sie, unverständig sind sie.
Es ist grauenhaft, beschämend, traurig.
Ich kann diese Menschen, die sich als so ganz anders als erwartet entpuppen, nicht als “schlecht” verurteilen. Sie versuchen für sich auch nur das Beste zu erreichen. Ich empfinde deshalb auch (noch?) nicht, dass ich ihnen später mal etwas verzeihen müsste.
Aber es wird für mich jeden Tag klarer, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Ich habe hinter ihre Fassade geschaut und was ich gesehen habe, gefällt mir nicht. In der Angst sind sie unverstellt, ganz sie selbst. Wenn die Angst morgen weg sein sollte, werden dennoch im Kern so bleiben. Ohne Angst richten sie vielleicht ihre alten Fassaden wieder auf oder auch neue, angepasste - doch dass der Kern sich gewandelt hätte, glaube ich nicht.
Eine für mich relevante Wandlung des Kerns würde unter Angst stattfinden, z.B. indem sie ihre Angst aufgeben oder ihre Art verändern - z.B. indem sie von einer Gesundheitsangst zu einer Diktaturangst wechseln - oder ihren Ton in Gesprächen anpassen - z.B. von Forderungen zu Bitten wechseln.
Veränderung nach der Angst finde ich hingegen wenig aussagekräftig. Ohne Angst kann jeder alles darstellen. Darauf kann ich mich im Notfall aber nicht verlassen.
Und so trennt sich in der Pandemie für mich noch mehr - leider manchmal in sehr überraschender Weise im nahem Umfeld - die Spreu vom Weizen. Ich sehe klarer, wer “wessen Geistes Kind” ist.
Das führt zu Trennungen.
Manchmal führt das aber auch zu neuen Verbindungen. Die schätze ich dann doppelt. Denn Begegnungen unter Angst sind für mich von vornherein ehrlichere.
Ich bin gespannt, wie sich unter Corona-Bedingungen Gemeinschaften umgestalten: dort ist Auflösung, hier ist Bildung.
#corona