Das Ganze lieber als der Nächste
Das ist das Resultat nach zwei Jahren Corona-Wahnsinn und vier Monaten Ukraine-Drama: dem Einzelnen ist das System, der Staat, das Ganze ans Herz gewachsen und muss geschützt werden. Um jeden Preis.
Was Mattias Desmet — der Autor von The Psychology of Totalitarism — in diesen beiden Videos vorträgt, scheint mir sehr plausibel:
Eine Gesellschaft, in der…
die Menschen sich einsam fühlen und
in der die Menschen in einer Sinnkrise stecken
ist eine Gesellschaft, in der die Menschen in Angst und Misstrauen leben. Der Boden unter ihren Füßen ist ihnen einfach massiv ins Wanken geraten. Aber wodurch?
Wenn der Grund nicht klar erkennbar ist, dann ist die Angst frei flottierend. Das ist noch schlimmer als eine Angst mit klarem Objekt.
Deshalb ist die Bereitschaft der Menschen groß, für ihr Unwohlsein eine Erklärung anzunehmen oder ihre Angst zumindest umzulenken auf etwas Konkretes.
Wenn in eine solche Gesellschaft nun eine Botschaft gesendet wird, die die Angst einfängt und auf Schuldige richtet, gegen die der Kampf Sinn stiftet und auch noch durch die “Objektivierte” anschlussfähig macht bei anderen… dann hat diese Botschaft eine große Chance, geglaubt zu werden und sich durchzusetzen.
Wer würde nicht mit Kusshand ein Angebot annehmen, dass ihn aus Einsamkeit und Sinnlosigkeit erlöst? Endlich wieder ein würdiges Ziel vor Augen, endlich wieder Gewissheit, dazu zu gehören.
Doch das Ergebnis ist, wie Desmet erklärt, eine Masse. Das fokussierende Narrativ führt zu einer Massenbildung (mass formation). In der ist die primäre Beziehung nicht die zum Nächsten, sondern… zum Ganzen bzw. dessen Repräsentant, dem großen Erklärer und Ausrichter und Sinnstifter.
Der Einzelne ist in der Masse anonym; die anderen in der Masse sind ihm deshalb auch unbekannt und als Einzelne einerlei — solange er sich mit ihnen “einig im Geiste” und deshalb massenzugehörig fühlt.
Nicht anonym, sondern als Individuum klar umrissen ist dem Massenmitläufer hingegen der Andersdenkende. Wer nicht der erlösenden Botschaft folgen mag, ist eine Gefahr für die wohlige Masse. Ihn gilt es zu bekehren oder zu bekämpfen. Die eigene Erlösung durch Mitlaufen in der Masse zum Sieg gegen das Angstobjekt verträgt keine Dissidenten und keine Renitenten. Sie stellen eine Gefahr für die eigene Heilwerdung dar.
Die von Massenteilen angerufene Solidarität ist wie ihre Beziehung auch keine mit Individuen, sondern eine mit dem Ganzen, der Sache. Vor allem geht es bei ihr um das Bekenntnis und die Einreihung in den Gleichschritt der Masse. Solidarität zu zeigen bedeutet, sich seiner Persönlichkeit zu entschlagen und gesichtslos zu werden.
Angerufen wird mit der Solidarität das Mitgefühl des Einzelnen; Zweck der Anrufung ist jedoch seine Aufgabe. Wer noch Abstand hatte zur Masse, wird über solidarische Handlungen assimiliert. Widerstand soll zwecklos sein gegen den Verweis auf die Solidarität.
Wohl also dem, der die Sendekapazität für eine angstfokussierende Botschaft an viele einsame, sinnsuchende Menschen hat. Wer fähig ist, eine Masse zu bilden, bekommt die Kontrolle über eine Abrissbirne.
So geschehen in den Corona-Jahren.
Fragt sich nur, was damit zerstört werden soll. Die Menschen sind jedenfalls bereit. Ihre Ohren sind auf die Verkündigung gerichtet; ihre Augen suchen den Fingerzeig auf das einzig Richtige. Alternativlosigkeit stiftet wenn schon nicht Sinn dann doch wenigstens Klarheit. Und Klarheit von außen ist so viel bequemer und sicherer, als Klarheit von innen. Was könnte daran falsch sein?