Das Problem der stabilen Pyramide
Demokratie, wie sie derzeit organisiert ist, degeneriert notwendig. Das Problem ist dabei gar nicht so sehr ihre Organisationsform als Hierarchie, bei der wenige an der Spitze einer Einflusspyramide stehen, deren breite Basis das Wahlvolk bildet, auf das Entscheidungen von oben drücken. Das Problem ist vor allem die Stabilität dieser Pyramide.
Es können nicht ständig alle über alles entscheiden; das scheint mir klar. Auch Demokratie braucht Hierarchie. Je grundlegender/existenzieller jedoch, desto mehr der Betroffenen sollten entscheiden.
Darin liegt für mich die erste dysfunktionale Stabilität der demokratischen Regierungspyramide: ihr grundsätzliche Form ist immer gleich - sie ist nicht mal flacher und mal höher - und alle Entscheidungen finden immer auf derselben Ebene statt. Ob Politikerdiäten, Atomausstieg, Masernimpfpflicht, Tempolimit oder Waffenexport… alles wird in der Pyramidenspitze entschieden bestehend aus Parlament und Regierung. Und diese Spitze ist weit weg von der Basis.
Die zweite dysfunktionale Stabilität: Es sind über Jahre, gar Jahrzehnte dieselben, die entscheiden. Die personelle Konstanz leistet Korruption Vorschub.
Die Spitze einer Entscheidungspyramide bietet einen Angriffspunkt für alle, die von ihr profitieren wollen. Das sind Akteure innen wir außen, Emporkommende und Lobbyisten.
Theoretisch gibt es Fluktuation in der Pyramide. Demokratische Wahlen entscheiden ja über ihre Zusammensetzung. Doch das führt nur oberflächlich und langsam zu Veränderungen. Darüber hinaus entscheidet der Wähler nicht über die, die zur Wahl stehen. Die Auswahl ist inzwischen hochgradig vorselektiert, also auch sehr statisch zumindest in Hinsicht auf Herkunft und Absicht.
Und so ist die real existierende Demokratie nur ein Schatten ihres Anspruchs. Sie ist nicht lebendig, weil es in ihr keine personelle Bewegung gibt. Die Organisation der Demokratie atmet nicht. Sie verkalkt zunehmend und wird brüchig.
Was tun dagegen?
Erstens: Entscheidungen viel flexibler und entsprechend ihrer Wichtigkeit und Konsequenzen mit sehr unterschiedlich großen Gremien entscheiden.
Zweitens: Die Entscheidungsgremien umso offener, instabiler halten, je grundlegender und wichtiger die Entscheidungen. Je nebensächlicher die Entscheidungen, desto seltener die Wahl ihrer Mitglieder. Je existenzieller, je weitreichender, desto zufälliger ihre Zusammensetzung. Denn nur der Zufall kann Entscheidungsträger aus der Schusslinie von Begehrlichkeiten nehmen, die mit einem Entscheidungsamt immer einhergehen. (Entscheidungs)Macht korrumpiert den, der sie hat und den, der davon abhängig ist. Auf Dauer jedenfalls.
Politik als Karriere darf deshalb keine Option mehr sein.
Aber braucht es nicht Erfahrung in der Politik? Natürlich braucht es die. Aber nicht bei Entscheidern. Über eine PKW-Maut oder die Privatisierung von Krankenhäusern oder eine Rentenreform oder eine Impfpflicht müssen nicht, nein, dürfen nicht Berufspolitiker entscheiden. Worin liegt denn deren Erfahrung? Im Umgang mit dem politischen System zu ihren eigenen Gunsten. Sie liegt nicht in der Sache; sie sind nicht Experten und nicht Betroffene.
Betroffene sind von Entscheidungen Belastete wie Begünstigte - dass Politiker zu einer dieser Gruppen gehören, ist nicht anzunehmen. Warum sollten sie entscheiden? Im besten Fall wären sie Vermittler zwischen diesen Gruppen, also nur noch Mediatoren ohne Macht und keine Politiker. Politik als Kunst der balancierten Entscheidung darf kein spezieller Beruf sein, sondern muss eine Sache jedes Bürgers werden.
Wenn nun aber nicht mehr Berufspolitiker entscheiden, sondern temporäre, themenbezogene task forces unterschiedlicher Größe, deren Mitglieder zufällig eingesetzt werden… dann sehe ich eine Chance, das Wurzelproblem einer degenerierten Demokratieorganisation zu lösen: ihre korrumpierende Stabilität.
Demokratie muss Kontrollbestrebungen entzogen werden. Wenn das Leben in der Evolution vom Zufall profitiert, warum dann nicht eine Gesellschaft? Zufall ist der große Gleichmacher. Von dem Tod sind alle gleich, vor dem Würfel auch.
#politik #demokratie