Demokratie ist nur etwas für Unabhängige
Wir verstehen Demokratie falsch. Das Verständnis von ihr scheint zu sein, dass sie materialisiert, sobald eine Gruppe von Menschen Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluss trifft. Natürlich ist es im Detail komplizierter, insbesondere wenn es sich bei den Menschen um die Einwohner eines Landes handelt — doch der erste wesentliche Schritt ist eben der Mehrheitsentscheid. Mit dem Mehrheitsentscheid werden alle an der Entscheidung beteiligt. Die Menschen entscheiden selbst für sich; es wird nicht für sie und über sie entschieden.
Aber stimmt das? Ist das Demokratie, wie sie von den Erfindern gemeint war? Ich sehe ein wesentliches Defizit, das in den üblichen Darstellungen ausgelassen wird. Die real existierende Demokratie ist verkrüppelt.
Um das zu verstehen, zurück zum Anfang: Wer hat die Demokratie erfunden? Die Griechen haben sie erfunden. Damals sah die Demokratie allerdings anders aus als heute. Die Entwicklung durchlief drei Stufen:
[Stufe 1] Die Bürger, die sich an der Wahl beteiligen durften, hatten oft Schulden bei den Adeligen und mussten ihnen ihr Wahlrecht abtreten. […]
[Stufe 2] Damit die armen Leute ihre Stimme bei Wahlen nicht an die Adeligen abgeben mussten, befreite er sie von ihren Schulden. Damit schuf [Solon] ganz wesentliche Voraussetzungen für eine Demokratie. Aber auch wenn alle Bürger die Volksversammlung wählen durften, so konnten nur Angehörige der reichsten Schicht ein Staatsamt übernehmen. […]
[Stufe 3] Kleisthenes führte wieder eine Volksversammlung ein und stellte alle männlichen Bürger rechtlich gleich. Zu den Bürgern zählten aber nur bestimmte männliche Einwohner, keine Frauen, Sklaven und Zuwanderer. Sie blieben davon also ausgeschlossen. Die Bürger waren nun automatisch Mitglieder der Volksversammlung und hatten das gleiche Stimmrecht. Außerdem konnte sich jeder für ein Amt wählen lassen.
Der entscheidende Unterschied zwischen damals und heute ist nicht, dass keine Frauen wählen durften. Ich halte es für ein erhebliches und überhebliches Missverständnis zu glauben, die real existierende Demokratie heute sei weiter entwickelt als die attische, weil heute selbstverständlich auch Frauen wählen dürfen. Erstens ist das Frauenwahlrecht in Deutschland auch erst 104 Jahre alt. Zweitens wurde damit die Frau in der Gesellschaft immer noch nicht in allen Belangen gleichgestellt. Bis heute gibt es Geschlechterungleichheit, die selbst die Beteiligung der Frauen an der Demokratie nicht ausgleichen konnte.
Der entscheidende Unterschied ist auch nicht, dass zunächst nur bestimmte Wahlberechtigte in Ämter gewählt werden durften. Denn ist es heute de facto anders? Formal darf zwar jeder Wahlberechtigte jedes Amt bekleiden; in der Realität braucht es jedoch eine Segnung durch eine Partei, in deren Dienst ein Aspirant sich stellen muss. Ohne Gunst der Oberhäupter der innerparteilichen Hierarchie, wird es schwer bis unmöglich, sich den Wahlberechtigten überhaupt anzubieten. Auch ohne Adel ist die real existierende Demokratie nicht frei von einer Elite, deren Mitglieder die einzigen sind, die ein Amt bekleiden werden.
Nein, für mich ist der wesentliche Unterschied ein anderer: Wahlberechtigt war nur, wer keine Schulden hatte. Solons Reform bestand deshalb darin, zunächst zu entschulden.
Doch auch damit ist noch nicht ganz der Kern des Besonderen der attischen Demokratie erfasst. Schulden stellen nämlich nur eine bestimmte Form des Zustands dar, in dem Wahlberechtigte nicht sein sollten. Dieser Zustand erschließt sich daraus, dass trotz Schuldenfreiheit immer noch Frauen und Sklaven nicht wahlberechtigt waren.
Was die Athener für zentral hielten war die Freiheit der Wahlberechtigten.
Frauen und Sklaven waren per definitionem für sie nicht frei. Sklaven waren offensichtlich unfrei. Aber auch Frauen waren während ihres ganzen Lebens “unter der Obhut” von Männern, also von ihnen abhängig:
“From birth to death a freeborn female in Athens was under the supervision of a kyrios, the man who was responsible for her maintenance and upbringing as a child, and for all situations in which she would interact with the public, such as marriage or legal transactions. At birth, the girl child’s kyrios would be her father or, if he had died, her father’s brother or her paternal grandfather. At marriage, her husband became her kyrios. If she became widowed or divorced, she returned to her original kyrios if he was alive, or came under the kyreia of her son or the nearest male relative.”, Women in Ancient Greece, Bonnie Maclachlan
Merriam-Webster definiert:
Greek kyrios lord, master, from kyros power, might
Für die Erfinder der Demokratie machte Wahlrecht also nur Sinn, wenn die Wahlberechtigten frei, d.h. unabhängig waren.
Das finde ich ab-so-lut zentral.
Warum? Weil Abhängigkeit Entscheidungen beeinflusst. Nur, wer keinem anderen Wahlberechtigten und auch keinem Kandidaten etwas schuldet, ist wirklich frei in seiner Entscheidung. Nicht umsonst wird in offiziellen Stellungnahmen immer wieder gefordert, mögliche conflicts of interest offenzulegen. Nicht umsonst ist die Unparteilichkeit eines Richters so ein hohes Gut. Demokratie ohne Unabhängigkeit, ohne Freiheit zur Entscheidung für die wirklich persönlich präferierte Option, ist keine Demokratie. Ohne Unabhängigkeit der Wahlberechtigten, ist der Aufwand ihrer Befragung unsinnig. Das macht jede Wahl in einem repressiven System klar.
Frauen vor 104 Jahren das Wahlrecht zuzusprechen, hat die Demokratie in Deutschland also nicht auf einen Schlag wahrer, ursprünglicher gemacht. Im Gegenteil! Das Frauenwahlrecht war und ist solange ein Hohn, solange Frauen nicht wirklich genauso frei sind wie Männer. Formal mögen sie das sein, doch de facto von den Verhältnissen in den existierenden Organisationen her — öffentlichen wie privaten, politischen wie wirtschaftlichen — sind sie es nicht. Frauen sind immer noch häufig mehr oder weniger subtil abhängig von Männern. Schon deshalb sind die politischen Verhältnisse in Deutschland nicht so einfach demokratisch.
Kritisch zu sehen ist insofern auch das immer wieder diskutierte Wahlrecht für Kinder. Kinder sind definitionsgemäß abhängig von ihren Eltern.
Doch nicht nur diese Beispiele zeigen, dass Demokratie in Deutschland nicht konsequent und nicht im ursprünglichen Sinn verstanden wird, verstanden werden kann. Deutschland ist weithin ein Land der Abhängigen:
Beamte sind abhängig vom Staat für ihre Gehaltszahlungen.
Arbeitslose sind abhängig vom Staat, der sie mit Arbeitslosengeld oder Hartz IV aushält.
Renter und Pensionäre sind abhängig vom Staat, der ihnen ihr Ruhestandsgeld in von ihm bestimmtem Umfang zugesteht.
Soweit nur einige Abhängigkeiten vom Staat, dem die vorstehen, die die Abhängigen, die Unfreien wählen. Dazu kommen weitere Abhängigkeiten in den abhängigen Beschäftigungsverhältnissen und durch finanzielle Schulden bei Banken.
Können angesichts solcher massiver Abhängigkeiten die politischen Wahlen demokratisch genannt werden? Ist Demokratie im ursprünglichen Sinn überhaupt möglich in solch real existierender Unfreiheit?
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass die Verhältnisse nicht mit Demokratie zu einbaren sind. Die Demokratie wird falsch verstanden, wenn wir meinen, jeder, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, solle die Wahlberechtigung bekommen. Die ursprüngliche Errungenschaft der Griechen wird verzerrt bis zur Unkenntlichkeit.
Der Mehrheitsbeschluss macht noch keine Demokratie aus. Ein Mehrheitsbeschluss führt nicht einmal automatisch zu guten Beschlüssen; die Soziokratie hat sich deshalb der Entscheidungsqualität angenommen; ihr kann ich einiges abgewinnen. Doch wer nimmt sich der Eignung der Wahlberechtigten an? Mir scheint es ein Tabu zu sein, überhaupt darüber zu sprechen. “Nicht jeder Erwachsene soll wahlberechtigt sein?”: diese Frage ist Ketzerei. Ich will mich davon nicht einschränken lassen!
Eine Demokratie, die sich wahrlich so nennen darf, eine radikale, d.h. zu ihren Wurzeln zurückkehrende Demokratie, braucht andere Ausgangsverhältnisse. Zuerst ist Gleichheit und Freiheit herzustellen. Nicht Konsumfreiheit, sondern geistige Freiheit, zu der natürlich einiges geistige Vermögen gehört, und finanzielle Freiheit. Solange Deutschland ein Land der Habenichtse ist, ist keine Demokratie möglich.
Wie eine Herrschaftsform in solchen Verhältnissen aussehen sollte, will ich dahingestellt lassen. Es können ja auch alle möglichen Menschen wahlberechtigt sein: Erwachsene, Kinder, Erwerbstätige, Ruheständler, Staatsbürger oder Ausländer… es ist einerlei. Nur sollte diese Herrschaftsform eben nicht Demokratie genannt werden, solange Unfreie und Freie, Abhängige und Unabhängige in einem Topf sind.
Wenn die Annahme ist, dass es mehr Menschen besser geht, wenn sie an Entscheidungsprozessen beteiligt sind, dann muss sichergestellt werden, dass so viele Voraussetzungen wie möglich gegeben sind für wirklich repräsentative Entscheidungen. Unabhängigkeit sehe ich dafür allerdings als fundamental an. Weiteres muss hinzutreten, z.B. Informationsgleichheit und Grundbildungsgleichheit.
Eigentumsgleichheit muss nicht existieren — wenn auch wohl zu große Unterschiede zu unschönen Spannungen führen. Die Lebensentwürfe der Menschen sind verschieden; die sollen sie ausleben dürfen. Doch als Staatsbürger sind sie alle gleich und brauchen für die Erfüllung dieser Aufgabe dieselben Voraussetzungen: grundsätzliche Unabhängigkeit. Die ist nicht einfach gegeben, weil jemand Prof. Dr. ist oder ein regelmäßiges Gehalt bezieht. Zu echter Entscheidungsfreiheit gehört mehr. Und ohne dieses Mehr ist die Demokratie mindestens anämisch, wenn nicht sogar falsch verstanden, wenn behauptet wird, dieses Mehr — die Unabhängigkeit — sei nicht nötig.