Der Chaos Monkey ist los
Netflix hat es vorgemacht. Staaten und andere Akteure machen es nach. Mit Chaos zu neuen Strukturen!
Netflix hat seinen Erfolg dem Zufall überlassen. Das aber natürlich nicht zufällig. Ganz bewusst hat man dort entschieden, die eigene Infrastruktur zufällig immer wieder stören zu lassen. Dass kleinere und größere Störungen in einem Softwaresystem, wie Netflix es braucht, um seine Videos zu Millionen Abonnenten zu streamen, unvermeidbar sind, war klar. Netflix hätte deshalb jedoch — wie viele andere Betreiber größerer Softwaresysteme — zum einen auf solche Störungen warten können, um sie dann ad hoc zu beheben und vielleicht daraus auch zu lernen und anschließend etwas zu verbessern. Zum anderen hätte Netflix sich vorab ausführlich überlegen können, wie Probleme von vornherein vermieden werden könnten.
Natürlich hat sich Netflix vorab viele Gedanken gemacht. Vor allem hat Netflix jedoch nicht auf Störungen warten wollen, um festzustellen, ob diese Gedanken schon ausreichend gewesen sind.
Netflix hat sich nicht auf eine hoffende Position zurückgezogen, sondern vielmehr das Unvermeidliche provoziert. Statt zu warten, dass Störungen irgendwie irgendwann durch irgendwen auftreten, hat Netflix eine Instanz geschaffen, die garantiert stört: den Chaos Monkey.
Der Chaos Monkey generiert zufällig Störfälle unterschiedlicher Größenordnung. Anhand dieser Störfälle überprüft Netflix, ob implementierte Infrastruktur auch realen, echt zufälligen Belastungen standhält. Der Störfall ist bei Netflix also kein Sonderfall, sondern der Normalfall.
"The best way to avoid failure is to fail constantly.", Netflix
Dieses Vorgehen wird auch Chaos Engineering genannt. Das Chaos zufälliger Störungen wird dabei nicht als destruktiv betrachtet; es ist vielmehr konstruktiv und Teil des kreativen Prozesses, komplexe System zu erschaffen. Dahinter steht die Einsicht, dass sich die besten Strukturen für solche Systeme nicht komplett vorausplanen lassen. Sie können erst unter realen Bedingungen, d.h. unter Stress entstehen.
Das selbsterzeugte Chaos zufälliger Störungen ist damit nicht nur Testwerkzeug, sondern Designwerkzeug. Netflix generiert Chaos, um neue Strukturen zu finden. Netflix nutzt das Chaos konstruktiv.
Und das passiert, so scheint mir, zunehmend auch politisch/gesellschaftlich: Chaos wird erzeugt, um zu neuen Strukturen zu kommen. Störungen werden generiert, nicht (nur) abwartend erlitten. In der Welt ist ein Chaos Monkey unterwegs.
Im Chaos ist die Welt außer Kontrolle. Das ist ein sehr ungemütlicher Zustand für die meisten Menschen. Sie sind deshalb dankbar für jeden, der verspricht, wieder mehr Kontrolle herzustellen.
“The best way to gain control is by generating a constant need for it.”
Chaos ist keine Freiheit. Freiheit ist frühestens für Menschen relevant, wenn die Zustände nicht chaotisch sind, denke ich. Erst Kontrolle, dann Freiheit. Das bedeutet umgekehrt: für Kontrolle wird Freiheit aufgegeben.
Ob das Chaos real ist oder die Verhältnisse in der Welt nur als chaotisch empfunden werden, ist unerheblich. Wer sich Chaos ausgesetzt fühlt, greift nach jedem Kontrollstrohhalm.
Das Chaos des 2. Weltkrieges hat zu neuen Strukturen geführt. Das Chaos nach dem Mauerfall hat zu neuen Strukturen geführt. Das Chaos nach 9/11 hat zu neuen Strukturen geführt.
Nicht anders kann es sein für das Chaos, das Migration, Klimakatastrophe, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg erzeugen. Es werden neue Strukturen entstehen.
Allerdings scheint mir, dass diese chaotischen Zustände eben nicht alle schicksalhaft sind. Sie kommen nicht plötzlich und unerwartet über Staaten, Regierungen, Bürger. Nein, mein Gefühl ist zunehmen je unausgesetzter solche Zustände herrschen, dass dieses Chaos bewusst hergestellt wird. Oder wenn nicht hergestellt, dann billigend in Kauf genommen bis wohlwollend gefördert. Denn in jedem Chaos steckt eine Chance für den, der sie wahrnehmen kann, der bereit ist.
Wie lässt sich Chaos pragmatisch erzeugen? Durch plötzlichen Mangel. Wem etwas im Hals steckenbleibt und das Atmen verhindert, versucht nicht mit besonnenem Verhalten, den Bolus loszuwerden. Nein, das Verhalten wird erratisch, panisch. Chaos eben.
Wie könnte es anders sein, wenn plötzlich andere Grundbedürfnisse einfach nicht mehr wie gewohnt befriedigt werden können? Der Bewegungsdrang kann nicht mehr ausgelebt werden, die Meinungsäußerung ist unterbunden, der Zugang zu Konsum für das Wohlbefinden in Hamsterrad-Gesellschaften ist eingeschränkt, Nähe zu anderen Personen ist untersagt, Freunde und Verwandte sind nicht mehr mit Vernunft und Emotion zu erreichen, Energiequellen für Wärme und Konsum sind abgebunden…? Was anderes als Chaos sollten solche Zustände auslösen? Zuerst mentales Chaos und Chaos im Zwischenmenschlichen, später Chaos auf der Straße.
Und solches Chaos ist in seiner derzeitigen Massierung zufällig? Es ist schlicht das Ergebnis zufälliger Prozesse in zunehmend komplexen Gesellschaften? Vielleicht — aber ich verliere den Glauben daran. Denn die Reaktionen darauf sind für mich zu wenig zufällig, zu wenig erratisch. Dass auf dasselbe zufällige Chaos bei Milliarden Menschen und hunderten Staaten in gleicher Weise reagiert wird, ist für mich nicht plausibel.
Meine Erwartung ist, dass Menschen sich im Angesicht von Chaos ganz unterschiedlich verhalten. Besonnenheit und Abstimmung ist gerade nicht das Zeichen von Reaktionen auf chaotische Verhältnisse. Besonnenheit und Abstimmung sind vielmehr Ergebnisse von Übung und Kontrolle. Die Feuerwehr agiert besonnen angesichts des Chaos eines Feuers, nicht der Laie.
Ob das Feuer jedoch zufällig entstanden ist oder durch die Feuerwehr gelegt wurde, sieht man ihrem Handeln nicht an.
Während ich der Feuerwehr ein hohes moralisches Bewusstsein zutraue, fehlt mir solches Vertrauen auf der Ebene von Staaten und bei Staaten überspannenden Organisationen, egal ob Unternehmen, ihre Verbände oder NGOs. Ja, dieses Vertrauen ist mir abhanden gekommen. Früher hatte ich es wohl; heute würde ich sagen, weil ich naiv war. Jetzt ist es abgeschliffen durch Corona- und Ukraine-Krise.
Plausibler als eine nicht abreißende Kette unglücklicher Umstände erscheint mir Chaos Engineering. Wenn das Böse planvoll sein kann, dann kann das Böse auch ganz unterschiedliche Formen haben. Im Film ist das Böse ja auch nur platt dargestellt, wenn es eine Fratze hat. Viel perfider ist das Böse, wenn es uns ausgesucht höflich im Anzug begegnet und nur unser Bestes will. Hat nicht auch Mephistopheles Faust nur helfen wollen?
Ja, ich denke, ein Chaos Monkey ist auf die Welt losgelassen. Der stellt die Welt auf die Probe und führt zu einer Neustrukturierung. Wie diese Struktur aussehen wird, ist den dahinter stehenden Chaos Engineers vielleicht nicht vollständig klar. Wie bei Netflix muss man sich auch überraschen lassen und kreativ die aufgedeckten Probleme lösen. Doch eine Idee wird man haben; die hatte Netflix auch. Niemand lässt den Chaos Monkey blind los. Allerdings… wie so mancher Geist, der gerufen wird, mag auch der Chaos Monkey nicht so beherrschbar sein, wie man annimmt. Überschätzung in der Nutzung von Technologien hat eine lange Geschichte.
Die neue Struktur ist mithin nicht fix. Die Welt läuft darauf nicht planvoll zu. Es gibt Freiheitsgrade. Ich hoffe, die nutzen die Menschen zu ihrem Besten.