Der Integrations-Irrtum
Warum Migranten ökonomisch handeln und was das für die deutsche Migrationspolitik bedeutet
Migranten sind an Integration nicht interessiert. Integration ist für sie kein unmittelbares Bedürfnis. Wenn die Gesellschaft, in die migriert wird – die „Zielgesellschaft" –, das nicht versteht, sind Fehlsteuerungen und Konflikte vorprogrammiert.
Wie ich mich erdreisten kann, eine solche Behauptung aufzustellen? Ich bin selbst Migrant. Als Deutsche leben meine Frau und ich seit sechs Jahren in Bulgarien. Wir sind 2019 in ein Dorf im Pirin-Gebirge gezogen und haben 2020 offiziell unseren Wohnsitz dorthin verlegt.
Seit sechs Jahren haben wir es „nicht geschafft", mehr als rudimentäres Bulgarisch zu lernen. Wir kennen die bulgarische Geschichte nur bruchstückhaft. Wir essen wenig Fleisch, wir trinken keinen Alkohol, wir haben keinen Gemüsegarten, wir stolpern beim bulgarischen Nationaltanz Horo über unsere eigenen Füße – man erkennt uns äußerlich als Migranten. Nach deutschen Maßstäben haben wir bei der Integration wohl keine Bestnoten verdient.
Warum sind wir so integrationsresistent?
Weil uns etwas anderes interessiert. Uns interessiert Funktion, nicht Integration.
Wir „funktionieren", sobald und solange unsere Interessen verlässlich gewahrt sind. Wir haben Bedürfnisse unterschiedlicher Wichtigkeit und Dringlichkeit; diese können wir befriedigen. Das ist uns genug. Ob wir damit gut integriert sind, ist für uns zweitrangig.
Beispiele für unsere Interessen sind: Wir möchten in Sicherheit, warm und trocken leben; wir wollen uns gesund ernähren können; wir wollen ein solches Leben möglichst mühelos von unserem Einkommen und Vermögen bestreiten können. Wir möchten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen haben und freundlich behandelt werden. Wir möchten nicht durch gesetzliche oder kulturelle Forderungen in unserem Lebensstil eingeschränkt werden.
Sind das unbescheidene Interessen? Ich denke nicht. Sie sind „ganz normal".
Als Migranten sind wir selbstverständlich bereit zu tun, was nötig ist, um diese Interessen zu wahren. Wir bezahlen unsere Steuern pünktlich, wir sind nett und freundlich, wir beachten die Gesetze des Landes. Das alles und noch etwas mehr tun wir, weil wir sonst befürchten, unsere Bedürfnisse nicht befriedigen zu können. Das alles fällt uns leicht und ist auch selbstverständlich.
Funktion setzt insofern Compliance voraus – Compliance so weit wie nötig, nicht so weit wie möglich.
Als Migranten handeln wir also ökonomisch. Wir setzen unsere knappen Ressourcen – Geld, Zeit, Aufmerksamkeit – dort ein, wo es für unser reibungsloses Funktionieren gerade nötig ist.
Interessanterweise gehörte dazu bisher nicht, die bulgarische Sprache zu lernen.
Bulgarisch zu können würde uns nicht wesentlich voranbringen bei der Befriedigung unserer derzeitigen Bedürfnisse. Wo mehr als unsere Bulgarisch-Kenntnisse nötig sind, ist es einfacher, einen Dolmetscher zu bezahlen (zum Beispiel beim Besuch beim Notar).
Mit vielen Aspekten des bulgarischen Alltags müssen wir uns nicht auseinandersetzen. Wir müssen uns in mancher Hinsicht nicht anpassen. Unsere Bedürfnisse sind ohne Anpassung ausreichend befriedigt.
Als Migranten sind wir deshalb nicht an Integration interessiert. Funktion ist völlig ausreichend. (Natürlich gehört dazu eine gewisse Konfliktfreiheit mit unserer Umwelt.)
Integration ist einfach kein Begriff aus dem Vokabular von Migranten; sie entstammt dem Wörterbuch der „Zielgesellschaft", in die Migranten einwandern. Die „Gastgeber" sind daran interessiert, dass Migranten sich integrieren.
Integration und Funktion sind deshalb nicht dasselbe aus unterschiedlicher Perspektive, sondern haben lediglich eine Schnittmenge. Gewöhnlich gehört zu dieser Schnittmenge beispielsweise die Gesetzestreue:
- Ein Migrant, der nicht gesetzestreu ist, verliert Funktionsfähigkeit, weil er mit seinem Vermögen oder seiner Freiheit dafür bezahlen muss, wenn er einer Gesetzesübertretung überführt wird.
- Ein Migrant, der nicht gesetzestreu ist, büßt Integrationsansehen ein, weil er sich der gewährten Aufenthaltserlaubnis gegenüber nicht angemessen verhält.
Aber wie in unserem Fall offensichtlich wird, gehört beispielsweise Sprachkenntnis nicht notwendigerweise zur Schnittmenge von Integration und Funktion: Wir fühlen unsere Funktion unbeeinträchtigt, doch unser Integrationsansehen ist sicher nur befriedigend bis ausreichend (wie uns in Behörden immer wieder zu verstehen gegeben wird).
Das hat Bedeutung für die Integrationsdiskussion in Deutschland, denke ich. Denn wer nun versteht, dass Deutschland mit seinem Integrationsanspruch als Zielland für Migranten einen anderen Anspruch hat als die Migranten selbst, erkennt schnell die Ursache für wahrgenommene mangelnde Integration: fehlende Anreize.
Migranten handeln ökonomisch. Sie tun nur so viel wie nötig, um angesichts aller Belastungen durch den Wechsel ihrer Alltagsumgebung und fern der Heimat nicht zusammenzubrechen.
Je unfreiwilliger Migranten in eine „Zielgesellschaft" wechseln, desto geringer ist die Motivation, mehr als das Nötigste zu tun. Ist das nicht verständlich? Sie sind vor allem daran interessiert, ihre Bedürfnisse – vom Dringlichsten ausgehend – zu befriedigen. Was dafür unvermeidlich ist, werden sie leisten.
Wer nach Deutschland kommt, um zu arbeiten, für den gehört eine Arbeitsstelle zur reibungslosen Funktion. Sie wird gesucht, hoffentlich gefunden, und dazu gehören in den meisten Fällen auch einige Deutschkenntnisse.
In urbanen Zentren und bestimmten Arbeitsverhältnissen mag es reichen, nur Englisch zu können; doch für die meisten Arbeitsplätze ist das zu wenig. Deshalb treffen wir in Bulgarien viele Bulgaren, die Deutsch sprechen – aber viel weniger Migranten, die Bulgarisch sprechen. Für Bulgaren war Deutschland lange nicht nur eine Reise wert, sondern die Verlegung des Wohnsitzes im Rahmen der EU-Freizügigkeit, um in Deutschland gutes Geld zu verdienen.
Sprachkenntnisse stehen deshalb nach der Gesetzestreue ganz oben auf der Liste der Leistungen, die Migranten für eine gute Integration zu erbringen haben. Sprachkenntnisse scheinen quasi selbstverständlich – hängen aber an der Prämisse, dass Migranten der Arbeit wegen nach Deutschland kommen.
Das mag für EU-Migranten und solche aus Drittländern, die Arbeitsvisa bewilligt bekommen haben, zutreffen. Doch für Asylsuchende ist es eine Fehlannahme. Asylsuchende suchen keine Arbeit in Deutschland, sie suchen Sicherheit.
Für Asylsuchende gehört Sicherheit zu den Grundbedürfnissen. Für Sicherheit sind sie bereit, das Nötige beziehungsweise das Nötigste zu tun. Funktion ist für sie erreicht, wenn sie sicher, „warm und trocken" und nicht hungrig leben können. Zumindest fürs Erste. Später mag noch hinzukommen, ihr Leben auch selbstbestimmter zu führen; dazu ist Geld nötig. Das könnte eine Arbeit liefern... doch es gibt auch andere Möglichkeiten.
Wenn Deutschland nun an der Integration dieser Migranten interessiert ist, lohnt es sich, die Funktion abhängig von der Integration zu machen.
Migranten, die ihre Bedürfnisse verlässlich befriedigt bekommen wollen, müssen deutlich gefordert und gefördert werden, dafür Integrationsleistungen zu erbringen. Wo Funktion unabhängig von Integration zu haben ist, ist auch nicht zu erwarten, dass Mehraufwand für Integration geleistet wird. Das ist kein böser Wille seitens der Migranten, es ist eine rein ökonomische Haltung.
Was als möglichst nahtlose Integration gilt, muss die deutsche Gesellschaft für sich festlegen. Gehört dazu Gesetzestreue? Gehört dazu die Beherrschung der deutschen Sprache auf B2-Niveau? Gehört dazu die eigenständige Bestreitung des Lebensunterhalts durch eine Arbeitsstelle beziehungsweise Selbstständigkeit? Gehört dazu ein anderweitiger Beitrag zur Gesellschaft? Gehört dazu ein bestimmtes Erscheinungsbild in Kleidung oder Haartracht? Gehört dazu eine gewisse Kenntnis von Geschichte, Kultur und Bräuchen in Deutschland? Was auch immer es sei, es muss definiert sein und zur Bedingung von Funktion gemacht werden, sonst ist nicht zu erwarten, dass Migranten sich integrieren. Sie haben schlicht keine Energie zu verschwenden; wenn und solange sie Funktion für sich ohne Integration für andere erreichen können, werden sie den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Das ist nur menschlich.
Integration ist kein Bonus, sondern die Voraussetzung für ein für alle funktionierendes Leben in Deutschland. Um die Perspektive umzudrehen: Für die Funktion der Einheimischen ist die Integration von Migranten von großem Interesse.
Aus eigener Erfahrung kann ich allerdings berichten, dass sich die Bedürfnisse von Migranten über die Zeit im „Zielland" auch verändern können. Wir haben eine Verfeinerung erlebt. Am Anfang standen Grundbedürfnisse wie Wohnung, Ernährung („Wo ist der beste Supermarkt?"), der richtige Umgang mit Behörden; wir mussten uns erst einmal einfinden in die neue Umgebung. Währenddessen waren wir zufrieden mit Kontakten zu anderen Migranten. Inzwischen hat sich das geändert. Je länger wir nun am Rande des Dorfes am Ende unserer Straße wohnen, desto näher kommen wir den Einheimischen. Sie werden zutraulicher; sie erkennen, dass wir doch nicht so fremd sind, wie vielleicht zunächst angenommen. Wir erhalten Einladungen zur Taufe und verhandeln mit den Nachbarn über den Zugang zum Wasser für unseren Garten.

Man akzeptiert uns mit unserer Unkenntnis des Bulgarischen und wartet geduldig auf unsere Google-Translate-Ergebnisse. Wir sind integriert genug für Georgi, Waska, Ivan und Alexander um uns herum. Doch wir bemerken, dass uns nun doch etwas für unsere Funktion fehlt. Wir würden diesen lieben Menschen gern näherkommen; das ist nun unser Interesse. Beziehungen zu den „Locals" sind etwas Wertvolles. Das lernen wir mit jedem Jahr mehr zu schätzen.
Um dieses gestiegene Bedürfnis zu befriedigen, werden wir nicht umhin kommen, doch noch bei unserem Bulgarisch nachzulegen. Sprache verbindet. Auf dem Land noch mehr als in der Stadt. Hier sind Beziehungen manchmal wichtiger als Transaktionen. Es geht nicht immer ums Geld. Vertrauen ist auch ein Vermögen, das aufgebaut werden will. Flüssige Verständigung macht das leichter.
Auf diese Weise fühlt es sich dann auch organisch an, Bulgarisch zu lernen. Es macht für uns Sinn, es steigert unsere Funktion. Wenn wir uns dadurch aus Sicht der Bulgaren besser integrieren, soll uns das freuen. Für uns als Migranten ist das jedoch weiterhin zweitrangig; erstrangig ist für uns die Funktion.
Das wird den Ideologen zu pragmatisch sein!