Der Klerus fliegt anders
Politiker ohne Maske im Flugzeug der Luftwaffe? Bürger mit Maske im Flugzeug der Lufthansa? Das lässt die Unmutswellen gerade hochschlagen? Ich verstehe das nicht. Das ist doch keine Überraschung. Es ist vielmehr das Natürlichste der Herrschaftswelt.
Um das zu verstehen, muss man ein Missverständnis aufklären: dass Politiker säkulare Gesandte des Volkes sind und der Wissenschaft folgen.
Das ist Quatsch. Nicht theoretischer, sondern praktischer Quatsch. Denn auch für Politiker gilt POSIWID: the Purpose Of a System Is What It Does. Oder einfacher ausgedrückt: Nicht an ihren Behauptungen und Erklärungen sollt ihr sie erkennen, sondern an ihrem Verhalten. Der Volksmund weiß “Du bist, was du isst.” Dem kann hinzugefügt werden “Du bist, was du tust.”
Also, was tun die Politiker? Sie messen mit zweierlei Maß. Im Lufthansa-Flug gilt Maskenzwang unabhängig von einem negativen Test. Im Luftwaffe-Flug gilt, was Die Zeit berichtet:
Scholz verwies angesichts der Kritik auf "klare Regeln" für Regierungsflüge. Bei einer Pressekonferenz in Neufundland betonte Scholz am Dienstag, man habe eindeutige Vorschriften, was die Flugbereitschaft betreffe.
Nach Angaben eines Sprechers der Luftwaffe ist bei Flügen in den Regierungsmaschinen den auf Corona getesteten Passagieren das Tragen einer Maske freigestellt. "Der Bedarfsträger stellt für die Delegation sicher, dass Passagiere getestet sind. Das Tragen einer Maske wird nur noch empfohlen", teilte der Sprecher auf Anfrage mit. Und: "Die Hygienemaßnahmen an Bord der Flugbereitschaft regelt ein Geschwaderbefehl. Dieser berücksichtigt die aktuelle Situation und wird ständig fortgeschrieben."
Die Antwort ist also: Es gelten klare Regeln. Die habe die Delegation nicht gebrochen.
Damit bleibt allerdings im Dunkeln, warum denn bei der Luftwaffe überhaupt andere Regeln gelten als bei der Lufthansa. Es hat sich ja nicht um einen Flug im Kampfeinsatz gehandelt. Sollten Generäle und Politiker bei Politik-Flügen nicht genauso vor dem Virus geschützt werden, wie Bürger bei Urlaubsflügen?
Nein. Warum? Als Begründung ein Beispiel:
Wer eine heilige Stätte wie z.B. das Rila-Kloster in Bulgarien besucht, darf das nur unter Beachtung einer Kleiderordnung. Nein, keine Maske wird verlangt, aber mindestens knielange Hosen bzw. Röcke und bedeckte Schultern. Außerhalb des Klosters ist Bikini erlaubt, innerhalb des Klosters nicht
Warum diese Unterscheidung? Hat die Wissenschaft herausgefunden, dass ohne solche Vorschrift der Menschheit Gefahr droht? Wissen die Mönche mehr als die Besucher und wollen sie schützen? Oder wollen sie sich selbst schützen?
Natürlich ist in diesem Beispiel jedem Besucher klar, dass es letztlich eine willkürliche Vorschrift ist. Die eine Religion besteht darauf, die andere nicht; die eine Religion hat diese Vorschriften, die andere jene. Das hat nichts mit Wissenschaft zu tun; es ist eine Sache der kulturellen Präferenz und des Glaubens. Kleidung wird als Symbol verstanden. Eine bestimmte Kleidung drückt Verständnis, Respekt, Wertschätzung, gar Demut aus. Es geht also ums Mindset.
Wächter des Mindset ist der Klerus. Der sieht seine Verantwortung darin, das Heilige zu schützen. Der Zweck besteht in einer Hierarchisierung der Welt: das Heilige steht oben und ist zu verehren; das Profane, die Bürger stehen unten und sind auf die Gnade des Heiligen angewiesen.
Als Priester des Heiligen sind die Mitglieder des Klerus naturgemäß dem Volk entrückt. Sie halten es deshalb für selbstverständlich, Privilegien zu genießen. Ob die in öffentlichem Reichtum oder allgemeiner Verehrung oder geheimen Mätressen bestehen, ist eine Sache der Präferenz. Dass der Klerus keinerlei Privilegien genießt, hat die Welt aber wohl noch nicht gesehen.
Zurück zum Luftwaffe-Flug: In der Diskussion steht also nicht ein Flug von säkularen Volksvertretern zum Besten ihrer Bürger. Öffentlich geworden ist vielmehr ein Flug des Klerus aus dem New Normal Germany.
Das Verhalten der Delegation ist völlig stimmig, wenn man davon ablässt, in ihren Mitgliedern Politiker mit Wille zur Balance zwischen Wissenschaft und Volkswillen zu sehen. Aus der Warte betrachtet, kann das öffentlich gewordene Verhalten nur Dissonanz erzeugen.
Kongruent ist es jedoch, sobald die Passagiere der Luftwaffe als Priester erkannt werden, die für sich selbstverständlich Privilegien reklamieren.
Dem Volk machen sie Vorschriften, um ihm immer wieder das Große Ganze Gute bewusst zu machen, für das sie kämpfen. Kleidervorschriften — hier: Maske — haben sich dafür als praktikabel im Alltag erwiesen. Der Jude trägt eine Kippa, der Sikh einen Dastar… der Covidianer eine Maske.
Diese Vorschriften gelten nur in bestimmten Kontexten. Wenn der Jude die Kippa und der Sikh ihre Kopfbedeckung immer tragen, geschieht das aus innerer Überzeugung heraus. Bei der Maske ist der Glaube hingegen noch fragil; deshalb ist es besser, die Maske nur punktuell zu tragen. Das Auf und Ab der Maske bringt sie mehr in Erinnerung als ein ständiges Tragen.
Diese Vorschriften gelten nur in der Öffentlichkeit und für das Volk. Der Klerus steht über dem Volk und hat ein nicht-öffentliches Leben. In dem ist er nicht an die Vorschriften gebunden. Der katholische Priester hat Sex (im Konsent oder auch nicht), der Politiker hat Sex im Oval Office (im Konsent). Oder was der Aktivitäten mehr sein mögen aus dem privilegierten Priesterstatus heraus, z.B. Maskenfreiheit wo das Volk Maske tragen muss.
Das Missverständnis ist, dass die Delegation aus Politikern bestand; sie bestand aber aus Klerikern. Kleriker versuchen sich gern als fürsorgliche Diener darzustellen — sie fühlen sich jedoch als Herren. Kleriker rufen für ihre Rolle gern etwas Größeres an, dem sie sich verpflichtet fühlen und das sie abhebt vom Volk: früher Gott, heute Wissenschaft.
Letztlich handeln Kleriker aber aus bigottem Glauben heraus. Ihre Entscheidungen sind nicht rational, sondern emotional. Sie dienen vor allem sich selbst.
Ob es das Maskenprivileg ist oder das Privileg der Festlegung des eigenen Gehalts oder die Ausnutzung der politischen Position als Sprungbrett in die Wirtschaft… Privilegien gehören zum Anreizsystem des Politikerstandes. Wer würde sich dieser Tortur noch unterziehen, im politischen System etwas bewirken zu wollen, wenn das nicht eklatante persönliche Vorteile hätte, im System wie auch später wieder außerhalb?
Nein, das was auf dem Flug passiert ist, ist das Natürlichste der Welt in einer Religion. Der Klerus genießt Privilegien. Der Klerus macht den Gläubigen Vorschriften. Die sind nicht evidenzbasiert, sondern vorteilsgetrieben, selbst wenn dazu noch Autoritäten angerufen werden: früher eine heilige Schrift, heute eine heilige Studie.
Es hatte also alles seine Richtigkeit auf dem Flug. Kein Grund zur Aufregung. Das New Normal Germany funktioniert, wie es soll will. Zur Erhaltung des Seelenfriedens tut jeder Bürger gut daran, Missverständnisse zu vermeiden. Es befördert die kognitive Konsonanz zu verstehen, wo der eigene Platz in der Gesellschaft ist und welche Rollen die Akteure wirklich spielen.
Im Krimi hat es seinen Reiz, wenn man den Bösen für den Guten hält und umgekehrt. Im realen Leben hingegen ist ein solches Missverständnis auf die Dauer einem Happy End abträglich.