Die neue Normalität des Totalen
Wo bitte gehts zur Hypermoral? Der Fundamentalismus ist säkular geworden.
Die Ukraine ist das totale Thema. Es dringt in das ganze Leben ein. Headlines beschreien es, social media überflutet es, Unternehmen zeigen Haltung — von Banken bis Airbnb —, die Kunst schließt aus, die Politik läuft heiß: überall muss Kriegsaversion, Putingegnerschaft, Solidarität betont und eingefordert werden. Etwas anderes wäre schlicht unmoralisch.
Das ist es, warum mich die Ukraine-Krise verstört.
Natürlich bin ich gegen Krieg. Gegen jeden. Dennoch kotzt mich an, wie das Thema das Leben aus dem Stand total übernimmt. Die Ukraine-Krise setzt nahtlos fort, was zuvor die Corona-Pandemie geschafft hatte: die Monopolisierung des Denkens; “Es darf keine anderen Themen neben mir geben!”
Da schien es, als gäbe es ein Aufatmen für die Gesellschaft. Der Griff von Corona wurde scheinbar gerade lockerer — manche Staaten gaben ihre Maßnahmen weitgehend auf, “das Narrativ” begann zu bröckeln, die Anti-Maßnahmen-Demos waren etabliert —, der Deutsche Michel konnte sich wieder auf mehr Fußball in der Masse im Stadion freuen… doch dann — Zack! — greift ein Krieg in Europa nach der vollen Aufmerksamkeit.
Wieder ein Krieg. Denn die Pandemie war auch Krieg. Die Welt ist nun, so fürchte ich, im Dauerkrieg. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.
Krieg dem Terror!
Krieg dem Virus!
Krieg den Russen!
What’s next?
Krieg den Chinesen? Oder sind die mehr Freund als Feind und Vorbild mit ihrer “Politik der starken Hand” gegenüber ihrer Bevölkerung?
Krieg den Klimakatastrophensündern und -leugnern?
Oder wenn das nicht taugt, dann vielleicht lieber von vorne anfangen:
Krieg dem Virus
Es gibt genügend Feinde, die das satte Leben bedrohen. Wenn doch nur die Terroristen, Ungeimpften, Querdenker, Russen, Chinesen, CO2-Schleudern und -Verharmloser nicht wären! Das Leben könnte so schön sein.
Aber es hilft nichts: Die Welt ist im Dauerkrieg, im totalen Krieg und deshalb braucht es Dauerfeuer auf allen Kanälen. Keine Meinung zu diesem Krieg ist keine Option. Die falsche Meinung ist auch keine Option. Da es also nur eine Meinung geben kann, die Richtige, die der Wahrheit entspricht, die dem folgt, was die Wissenschaft zweifelsfrei herausgefunden hat, was auch und vor allem die Politiker immer schon gewusst haben, deshalb muss diese Meinung auch allerorten und stets verkündet werden.
Aber nicht nur das! Denn die Moral kennt keine Grauzone, sondern nur Richtig und Falsch — und weil Falsch nicht richtig ist, braucht es auch keine Diskussion mehr. Es braucht keine verschiedenen Seiten, die in einem Diskurs tanzend die Welt erschaffen. Nein, es braucht nur noch eine Instanz, die endlich und ein für alle Mal dafür sorgt, dass das einzig Richtige verkündet, erkannt und getan wird.
Gesundheit, Frieden, Klima sind keine Themen, die dem Einzelnen oder auch nur verschiedenen Gruppen oder Staaten überlassen werden dürften. Es handelt sich um Weltthemen, die alle Menschen betreffen. Wirklich alle. Und da es dazu keine zwei Meinungen geben darf, braucht es für Weltgesundheit, Weltfrieden, Weltklima überstaatliche Institutionen. Aus dem Dauerkrieg folgt also zwingend die Globalisierung der Herrschaft.
Wer sich nicht zum Richtigen bekennt, ist ein Unmensch. Wer nicht einfach solidarisch ist, sondern noch zweifelt und zu bedenken gibt, der ist ein Unmensch.
Kein Unmensch zu sein, gilt es natürlich jederzeit zu beteuern: auf der Arbeit, in der Kneipe, im Geschäft, im Verein… Denn ohne zur Schau gestellte Menschlichkeit droht Ausschluss. Auf Unmenschen wird intuitiv mit AHA reagiert: auf Abstand gehen, nichts berühren, wo sie ihre Hände im Spiel haben könnten (Kontaktschuld droht!), und absondern durch Cancellation und Ausschluss.
Der global geltende Impfpass stets auf aktuellem Stand nach Forderung der Weltgesundheitsbehörde dokumentiert schon bald die richtige Haltung zur Weltgesundheit. Weitere Aushängeschilder der rechten, Entschuldigung: der richtigen Gesinnung werden folgen und dürfen gern auch im vorauseilenden Gehorsam selbst angefertigt werden. Schleifen bieten sich an, wie weiland zur Bekundung der Solidarität mit Aids-Kranken. Für eine blau-gelbe ist es hohe Zeit.
Ist die Welt aber wirklich im Krieg? Ist Krieg der alternativlose Dauerzustand?
Nein, der Krieg ist ein Geschöpf des Menschen. Er ist nicht alternativlos. Für den Krieg entscheiden sich Menschen mit Macht. Sie tun es, weil der Kriegszustand ihnen dient.
Der Krieg ist wie ein heller Scheinwerfer. Er blendet und wirft Schatten. In seinem Licht gibt es kein Grau mehr. Es ist entweder Licht oder Dunkel. Was ohne Krieg noch ambivalent, zweideutig war, das ist mit Krieg eindeutig. Im Krieg gibt es eine klare Front, sowohl eine, an der gekämpft wird, wie auch eine im Denken. Die Front ist eine Grenze: diesseits herrscht das Gute, jenseits der Feind.
Krieg polarisiert, Krieg spaltet. Er trennt die Spreu vom Weizen. Und das ist es, was sowohl die Mächtigen wie auch die Ohnmächtigen zur Zeit zu brauchen scheinen: klare Positionierung. Die Mächtigen verfolgen mit dem Krieg ihre Ziele. Die Ohnmächtigen nehmen ihn zum Anlass, endlich die Frage beantwortet zu bekommen: “Wo bitte gehts zur Moral?” Oder genauer: zur Hypermoral. Der Krieg beantwortet die Frage unzweideutig und entlastet damit die Ohnmächtigen von Entscheidungen und lenkt sie ab von ihrem Los.
Wer für sich die Moral reklamieren kann, hat keine Fragen mehr, sondern nur noch Antworten. Was für ein beneidenswerter Zustand! Wo das Vermögen fehlt, kann zumindest eine stramme Haltung eingenommen werden.
Zweideutigkeit, Ambivalenz, Komplexität… Das verträgt der Ohnmächtige nicht länger. In Hoffnungslosigkeit gefangen, kann er Unentschiedenheit nicht mehr aussitzen. Er jammert “My brain hurts!” und sucht Entlastung, wo er sie finden kann. Die liefert ihm die Moral des Krieges.
Was gestern noch an Frustration im Stadion herausgebrüllt oder auf Malle am Strand verheizt werden konnte, muss sich heute anders entladen. Da bietet sich ein durch Politik und Wissenschaft zertifizierter Feind als ideales Ventil. So ist der Krieg eine Entlastung auch für die Ohnmächtigen.
Sie brauchen ihn als Droge. Die ist alternativlos, weil die Alternativen Desillusion und Selbstverantwortung wären. Eine nicht auszuhaltende Vorstellung!
Deshalb ist die neue Normalität auch die Totalität. Ein Krieg, der nicht total ist, hat noch Risse, durch die Zweifel eindringen könnten. Das darf nicht sein. Nur wenn das ganze Leben auf dem Fundament einer einzig richtigen moralischen Haltung ruht, ist es ein gutes.
Die neue Normalität ist ein säkularer Fundamentalismus. Es ist diese Stimmung des Fundamentalismus, die mich so verstört.
Brilliant geschrieben! Eine glasklare Analyse von dem, was wir seit Jahren erleben.