Die Re-Sakralisierung hat begonnen
Deutschland wird wieder von einer Kirche bestimmt. Die historisch kurze Phase der Säkularisierung ist beendet. Die wahlweise fürsorglichen und strafenden Priester sind zurück.
Aber kann denn das sein? Ist nicht jetzt das Leben von der Wissenschaft geleitet? Ja. Und mit ihr wird die Säkularisierung demontiert.
Ich weiß, das muss ich jetzt genauer erklären. Was meine ich mit dem hinter Sakralisierung wie Säkularisierung stehenden Begriff Religion? Was meine ich mit Kirche?
Religion verneint Erfahrung
Religion wird gemeinhin mit Glauben assoziiert. Glauben wird als Gegenteil von Wissen verstanden. Was ist denn aber Glauben? Es ist eine Vorstellung von Wahrheit. Wer glaubt — allemal die Gemeinschaft der Angehörigen einer Religion — hat mithin einen Wahrheitsanspruch. “So ist es!” deklamiert der Glaubende bereitwillig jederzeit. Schnell wird sogar noch hinzugesetzt “Ich weiß es!” — was dann Glaubensgewissheit genannt wird. Ja, der Glaubende ist sich ganz gewiss, dass es ist, wie er glaubt.
Diese Überzeugung, der Wahrheit teilhaftig geworden zu sein, lässt den Glaubenden auch gern hinausziehen und versuchen, anderen ebenfalls die Segnungen seiner Wahrheit zuteil werden zu lassen. Der Glaubende sprudelt über und wird zum Missionar. Doch warum fällt das Missionieren so schwer? Dem Glauben fehlt etwas, das seine Wahrheit für andere offensichtlich vorteilhaft macht.
Diese Beschreibung assoziieren wir sofort insbesondere mit den großen Religionen wie Christentum und Islam. Beide sind missionarisch unterwegs. Das Judentum hingegen nicht, auch nicht der Buddhismus. Dennoch: Glaubensgewissheit herrscht überall. “So ist es!” wird von all ihren Anhängern behauptet.
Im Kern von Glauben steckt also nicht die Abwesenheit von Wissen. Denn der Glaubenden weiß ja; er ist sich ganz gewiss. Allerdings ist dieses Wissen nur ein Gefühl. Wir kennen das alle, wenn wir uns ganz gewiss einer Erinnerung sind — bis wir auf einem Foto das Gegenteil sehen müssen. Unser Wissen war kein sicheres, sondern nur ein vermeintliches. Wir haben in einer Illusion gelebt.
Nein, das Gegenteil von Glauben ist nicht Wissen, sondern… Erfahrung. Und zwar übertragbare Erfahrung. Wenn ich eine Erfahrung mache, dass Handlung A zu B führt, und andere, die A ausführen kommen auch zu Ergebnis B, dann ist das eine übertragbare Erfahrung.
Und solche übertragbaren Erfahrungen sind Religionen entgegengesetzt. Religionen sind Massenphänomene, die sich naturgemäß nicht mit den Details von Erfahrungen Einzelner abgeben können. Denn dass A zu B führt ist aus vielerlei Gründen gerade in allen Dingen, die die Psychologie und Soziologie angehen, nicht gewiss.
Deshalb ist das Missionieren einer Religion so vielen Widerständen ausgesetzt. Sie hält für die Missionierten keine offensichtlichen Vorteile bereit. Es gibt keine unmittelbar positiven und übertragbaren Erfahrungen. Denn wer würde nicht wollen?
Währen der Mystiker ganz bei sich ist und allein auf seine Erfahrungen schaut, ist der Glaubende einer Religionsgemeinschaft auf ihre Institutionen ausgerichtet. Was dort verkündet wird, versucht er nachzuvollziehen. Mit mehr oder weniger Erfolg.
Institutionen können Bücher, herausragende bzw. herausgehobene Personen oder Organisationen sein. Was immer zu einer Autorität geworden ist, vermittelt dem Glaubenden seine Gewissheit. Er traut sich selbst weniger als dem, was er von denen vorgesetzt bekommt, die es doch wirklich wissen müssen qua Rolle in der Religion.
Dass das Christentum lange das Leben der Menschen bestimmt hat, liegt auf der Hand. Dass der Islam es für viele heute noch tut, auch. Das war/ist die Herrschaft des Sakralen. Denn die Wahrheit der Religion ist heilig. Wer sie leugnet, muss mit ernsten Konsequenzen rechnen.
Die Phase der Säkularisierung
Allemal seit dem 18. Jahrhundert hatte sich jedoch eine Skepsis in der Christenwelt eingeschlichen. Man wollte nicht mehr einfach glauben, sondern lieber seinen Erfahrungen vertrauen. Die Wissenschaft setzte zu ihrem Siegeszug an. Die wissenschaftliche Methode sollte das Reich des Metaphysischen, des Jenseitigen, des Aberglaubens zurückdrängen. Nicht mehr der Glaube sollte herrschen, sondern das Wissen. Übertragbare Erfahrungen in Form wiederholter Experimente mit gleichem Resultat sollten fortan das Fundament der Gesellschaft bilden.
Eine schöne Idee! Eine Idee, die vielleicht 150 oder 200 Jahre lang Boden gewinnen konnte. Anders als gemeinhin angenommen, sind für die real existierende Säkularisierung jedoch nicht Wissenschaftler verantwortlich. Denn Wissenschaftler stellen keine Erfahrungen her, die dem gemeinen Bürger vermittelbar sind.
Die Säkularisierung ist kein Ergebnis der Wissenschaft, sondern des Ingenieurwesens.
Wissenschaftler finden zwar heraus, “was die Welt im Innersten zusammenhält”. Sie entdecken die Naturgesetze; sie arbeiten die wenigen wahren Kausalitäten aus einem Feuerwerk von Korrelationen heraus. Sie formalisieren und machen zugänglich.
Doch die praktische Anwendung der Wissenschaftsergebnisse ist nicht ihre Sache. Sie finden — und Ingenieure erfinden. Ingenieure sind Pragmatiker, die aufgedeckte Wahrheiten umsetzen in nützliche Technologien. Sie machen die abstrakten Ergebnisse der wenigen Wissenschaftler relevant für die vielen Nicht-Wissenschaftler. Ingenieure sind die Produzenten von Wohlstand.
Und Wohlstand… das ist eine übertragbare Erfahrung, die jeder machen kann. Wohlstand muss nicht missioniert werden. Wohlstand ist ein Selbstgänger in der Verbreitung.
Die Säkularisierung hat mithin erst dann Fahrt aufgenommen, aufnehmen können, als genügend Ingenieure Wissenschaft für die Masse positiv erfahrbar hat werden lassen.
Im 20. Jahrhundert kulminierte die Säkularisierung schließlich in der Konsumgesellschaft. Denn Konsum ist spürbarer Wohlstand in allen Größenordnungen und zu jeder Zeit. Wer konsumieren kann, braucht keine Wahrheit mehr, die eine Institution verkündet und keinen unmittelbaren Vorteil im täglichen Leben hat.
Die Säkularisierung hat mit der wissenschaftlichen Methode begonnen, hat Ingenieurwesen ermöglicht, das zu Wohlstand und schließlich Konsum geführt hat.
Zurück zur Religionsherrschaft
Im Konsum kann nun jeder wieder persönliche Erfahrungen machen und seinen Weg zu einem guten Leben finden. Das sind qualitativ andere Erfahrungen als die der Mystiker, doch es sind individuelle. Eine Religion braucht es dafür nicht. Es braucht keine Institutionen.
Und das ist das Problem. Das ist das Problem, mit dem Herrscher immer schon gerungen haben: dass Menschen ihre eigenen Erfahrungen machen, also nicht auf “Vorschläge” von Herrschern angewiesen sind. Herrscher fürchten die Unbeherrschbarkeit der Masse von Erfahrungsindividualisten.
So ist es kein Wunder, dass das Pendel wieder zurückzuschwingen beginnt. Zuerst hatte die immer enger gewordene sakrale Welt und Herrschaft ihren Widerstand geboren; eine Säkularisierung hatt eingesetzt. Nun hat die Säkularisierung “den Bogen überspannt”: sie wird von den Herrschenden wieder eingehegt. Zu viel Wohlstand ist auch nicht gut!
Das Mittel zur Re-Sakralisierung ist natürlich und notwendig dasselbe: ein Glaube. Oder besser: der Entzug von Erfahrung, die Leugnung von Erfahrung. Nicht das, was unmittelbar gespürt werden kann, darf das Individuum bestimmen, sondern nur das, was verkündet wird.
Die Legitimation liefert wie immer die ursprünglich “mystische” Quelle: Die großen Religionen hatten alle ihre Begründer, die Erfahrungen gemacht haben, die später von Institutionen zu Heiligkeiten erhoben wurden. Die Re-Sakralisierung nun gründet sich in der Wissenschaft. Nicht ein Gründer wird angerufen, sondern eine Zunft. Diese Zunft wird gleichgesetzt mit einer Methode.
Doch darin liegt der Fehler wie immer, wenn Erfahrung instrumentalisiert wird. Früher galt, was Jesus oder Mohammed gesagt zu haben scheinen, heute gilt, was die Wissenschaft scheinbar sagt. Die Menschlichkeit der Einzelnen und allemal der Zunft wird dabei geflissentlich ausgeblendet. Es wird selektiert, wie es der Herrschaft passt.
Voraussetzung dafür ist, dass es nicht um nachvollziehbare Erfahrungen geht. Weder war Gott als über allem thronender Herrscher verlässlich erfahrbar, noch sind die Aussagen der orakelnden Modelle der Wissenschaft verlässlich erfahr.
Die Re-Sakralisierung basiert auf Wissenschaft, die entrückt ist. Sie produziert keine unmittelbar von Ingenieuren umsetzbaren Ergebnisse. Sie deckt keine Kausalitäten auf, weil sie kontrollierte Experimente durchführt. Damit werden wissenschaftliche Aussagen zu Glaubenssätzen.
Natürlich wird nicht die ganze Wissenschaft instrumentalisiert. Nur der Teil ist für Herrschende interessant, der sich nicht durch Ingenieure unmittelbar in Wohlstand umsetzen lässt. Nur der Teil kann geglaubt werden, wo der Masse Überprüfungen unmöglich sind.
Schon in der Corona-Pandemie wurde der Wert persönlicher Erfahrungen geleugnet und durch eine obskure Metrik ersetzt, die nur von herrschaftlich akkreditierten Institutionen erhoben und gedeutet werden durfte. Nicht anders ist es beim Thema Klimawandel.
Individuelle, vielfältige Erfahrung wird durch Verkündung der einen Wahrheit — aka Propaganda — ersetzt.
So findet die Re-Sakralisierung Deutschlands oder gar eines Großteils der Welt statt. Ein wahrhaft erfahrungsbasierter Ursprung wird usurpiert, pervertiert und zu einem Herrschaftsinstrument gemacht. Wahrheit ersetzt Erfahrung. Zukünftiges Heil ersetzt gegenwärtigen Wohlstand.
An der Wand der Behördenstube findet sich kein Kreuz mehr. Aber morgen könnte dort als Symbol der neuen Wissenschaftsreligion ein exponentielle Entwicklungskurve hängen.