Die Zutaten der Freiheit
Wann bin ich eigentlich frei? Wenn mir Freiheit wichtig ist, sollte ich mir klar darüber sein, was ich dafür brauche und woran ich sie erkenne. Nur so kann ich ja auch feststellen, wann sie mir abhanden kommt.
Ich glaube, es müssen für Freiheit ganz einfach zwei Dinge zusammenkommen:
Vielfalt
Mobilität
Nur wenn beides da ist, bin ich frei. Nur eines von beidem reicht nicht!
Vielfalt
Zuerst müssen Alternativen existieren. Die grundsätzlichen Alternativen sind, etwas haben zu wollen oder zu verzichten: entweder A oder nix (N). Was normalerweise aber gemeint ist, sind mehrere positive Alternativen, also nicht nur A, sondern A und B oder auch noch C und D - und natürlich immer N.
Wenn es keine Alternativen gibt, dann müssen wir nicht mal über Freiheit reden. Oder umgekehrt: Wo alle Alternativen durch eine Regierung als nicht existent deklariert werden - die Merkelsche Alternativlosigkeit -, da ist die Freiheit schon weg.
Was Alternativen (oder Optionen) im Supermarkt oder Kaufhaus sind, ist jedem klar. Alternativen sind ja aber nicht nur beim Konsum relevant. Wir schätzen Alternativen auch z.B. bei der Arbeitssuche oder der Partnerwahl.
Mobilität
Mobilität ist für mich gegeben, wenn ich nicht auf etwas festgelegt bin. Wenn es Alternativen gibt, dann habe ich grundsätzlich die Wahl. Doch kann ich diese Wahl aus ausüben? Das hängt von meiner Mobilität ab. Damit meine ich körperliche wie geistige wie emotionale.
Im Supermarkt ist die Mobilität offensichtlich: Ich kann zwischen Marmeladen A und B wählen - es gibt Alternativen -, und ich entscheide mich heute für A, weil sie auf Augenhöhe steht, nächsten Monat entscheide ich mich aber für B, weil mir A nicht geschmeckt hat. Und im Monat darauf steht plötzlich noch C im Regal und ist günstiger, was mich zum Kauf veranlasst. Durch den leichtfüßigen Wechsel zwischen den Alternativen demonstriere ich Mobilität in Bezug auf die Marmeladenwahl.
Geringer mag die Mobilität schon sein, wenn es ums Smartphone geht. Ich habe jetzt seit 11 Jahren nur iPhones genutzt. Wenn iPhones in Zukunft stark im Preis steigen würden, fiele es mir schwer, zu einem Android Phone zu wechseln. Meine Mobilität ist bei der Smartphone-Wahl eingeschränkt. Das weiß leider auch Apple.
Immobilität beim Konsum finde ich allerdings nicht gravierend. Schlimm ist es, wo die Dinge existenziell werden: Beziehungen, Arbeit, Gesundheit.
In allen Bereichen gibt es immer Alternativen - nur fühlen wir in manchen Bereichen, dass sie uns entgleiten. Wir werden steif, immobil. Es nützt nichts, dass es Alternativen gibt, weil sie uns entrücken: so nah und doch so fern.
Freiheit
Freiheit ist, wo Alternativen und Mobilität zusammenkommen. Die westliche Welt hat, was das angeht, Gigantisches geleistet im Bereich Konsum.
Mit der Konsumfreiheit haben andere Freiheiten jedoch nicht Schritt gehalten. Das liegt weniger an einem Mangel an Alternativen:
Wir fühlen uns auf der Arbeit unwohl? Es gibt eine Menge alternative Arbeitsangebote oder sogar die Alternative, etwas ganz anderes zu machen. Vom Bäcker zum Innendesigner zu werden, ist erlaubt und möglich.
Wir fühlen uns mit unserer “besseren Hälfte” nicht mehr wohl? Es gibt unglaublich viele Alternativen, die sich heute sogar auf Partnerbörsen bequem anbieten. Eine Scheidung ist nicht nur legal, sondern auch “technisch” recht einfach.
Wir kommen beim Treppensteigen aus der Puste? Irgendwie scheinen das Rauchen und die Wampe unsere Kondition zu beeinträchtigen? Es gibt alternative Weisen zu leben. Nicht nur, kann man zwischen verschiedenen Zigarettenmarken wählen, man kann auch den Verzicht darauf wählen. Und eine andere Ernährung und etwas mehr Bewegung sind quasi kostenlos.
Uns gefällt es in Deutschland nicht mehr so gut, weil es zu viel oder zu wenig Migration, Steuern, Digitalisierung, Bahn-Verspätungen, Bürokratie oder sonst etwas gibt? Dann sind 26 weitere EU-Staaten offen für eine Einwanderung; das macht für EU-Bürger kein Problem. Und auch außerhalb der EU finden sich Staaten, die gern neue Bürger willkommen heißen.
Die Welt ist voller Alternativen! Immer noch. Sogar in Pandemie-Zeiten.
Warum scheint dann die Freiheit vielen eingeschränkt?
Ich beobachte einen massiven Mangel an Mobilität. Und diese Immobilität ist zu einem guten Teil selbst gemacht. Aktiv hergestellt ist sie wohl eher nicht, doch zugelassen. Sie ist eine Form von Atrophie: Wer mit 22 noch die Welt erobern wollte und für jedes Land offen war - also eine hohe staatliche Mobilität hatte -, der ist mit 41 und Partner(in) und 3 Kindern in Kindergarten und Grundschule in dieser Hinsicht hochgradig immobilisiert.
Familie, Verwandte, Freunde, Verein, Kollegen, abhängige Beschäftigung, Hypothek und Schulden anderer Art, Gesundheitsprobleme, keine Fremdsprachenkenntnisse, “Orchideenkompetenz”… das und mehr sind Eisenkugeln am Bein, die die Mobilität einschränken, gar auf 0 reduzieren.
Selbstverständlich ist auch Immobilität eine Alternative; die zu wählen ist legal, legitim, verständlich - oft sogar mit Wohlwollen bedacht und gefördert.
Nur ist es so, dass man dann vorsichtig sein muss mit einer Klage über Freiheitseinschränkungen. Die Freiheit ist nur wirklich bedroht, wenn sowohl die Zahl der Alternativen abnimmt wie auch die Mobilität abhanden gekommen ist.
Ich denke, das ist es, was viele bedrückt: Sie fühlen sich zurecht immobil und sehen sich starken Veränderungen ausgesetzt. Wer denen nicht ausweichen kann, muss sich beklagen oder dagegen kämpfen oder verzweifeln.
Solange jedoch Mobilität besteht, steht noch eine “Abstimmung mit den Füßen” zur Wahl. Aufstehen und gehen. Fertig. Nicht aushalten, nicht “verändern von innen”, nein, einfach weggehen: Das ist nicht nur eine Lösung für sich selbst, sondern auch ein Signal an das System, das die Alternativenzahl (oder Qualität) begrenzt.
In der Gesellschaft wird von Aufwärtsmobilität gesprochen (social mobility): Wie leicht fällt es Menschen, die in unteren Einkommensschichten ihr Leben starten, in höhergelegene aufzusteigen? Deutschland hat hier keinen der Top 10 Plätze weltweit inne.
Wie wäre es, wenn wir auch von lateraler Mobilität sprechen würden, also einer Mobilität “zur Seite”? Ohne aufzusteigen von Hamburg nach Walsrode ziehen, weil es dort günstiger zu leben ist? Ohne aufzusteigen einfach eine gesunde Ernährung beginnen? Ohne aufzusteigen den Beruf wechseln? Ohne aufzusteigen in ein anderes Land ziehen? Wie steht es mit dieser Mobilität in Deutschland? Ich glaube, nicht sehr gut. Und das ist schade. Weil damit eine wesentliche Zutat für wirkliche Freiheit fehlt.
Oberflächlich kann deshalb viel Freiheit behauptet werden: Schaut, was es für Alternativen gibt! Doch die real existierende bzw. nutzbare ist viel, viel geringer. Denn was nützen die Alternativen ohne die Mobilität.
Raubbau an Freiheit beginnt nicht unbedingt mit dem Abbau von Alternativen. Nein, ich glaube, die Freiheit wird vor allem Stück für Stück durch Förderung der Immobilität abgebaut.
#gesellschaft #wirtschaft #politik