Ein Beispiel echter Freiheit
Wie ich etwas über Freiheit von einem streunenden Hund gelernt habe
Echte Freiheit sehe ich nicht bei Menschen. Ich kenne niemanden, der frei ist. Auch, wenn ich mich darum bemühe, ich selbst bin es auch nicht.
Doch Kutshe, der streunende Hund in unserem Ortsteil, der macht mir vor, wie es geht. Kutshe ist frei.
Kutshe — so haben wir ihn einfach genannt; das bedeutet Hund auf Bulgarisch (куче), hört sich für uns aber wie ein Name an — hat kein Herrchen. Er lebt für sich um unser Haus herum. Mal ist er in unserem Garten, mal beim Nachbarn, mal streunt er umher und ist stundenlang nicht zu sehen, dann übernachtet er in unserem Garten unter einem Strauch.
Heute morgen sind wir zu einem Spaziergang aufgebrochen. Kutshe hat sich uns einfach angeschlossen. Den ganzen Weg den Berg rauf und runter inkl. Pause auf einer Bergwiese war er 1,5 Stunden in unserer Nähe. Wir haben ihn weder verscheucht noch gerufen. Er hätte jederzeit einen anderen Weg einschlagen können — aber er hat es vorgezogen, bei uns zu bleiben.
Wie anders das Leben eines Hundes mit Besitzer, eines Sklavenhundes. Der Hund sucht sich seinen menschlichen Gefährten nicht aus. Er wird von ihm gewählt und dann eingesperrt und angeleint. In die Natur gehts nur, wenn sein Herrscher es will. Geschlafen wird, wo der Herrscher es befiehlt. Bewegung gibt es nur im Radius, den der Herrscher zulässt qua Leine oder Ruf.
Kutshe ist kein Sklavenhund. Er bestimmt über all das und mehr für sich. Er wählt seine Beziehung zu uns und wir wählen unsere Beziehung zu ihm. Kutshe herrscht über sich selbst und nur über sich selbst.
Interessant ist, wozu das führt: Wir sind beide lieb zu einander.
Kutshe bellt nicht. Kutshe springt auch nicht an. Kutshe ist nicht aggressiv. Nur, wenn der Nachbar ihn ankettet, jault er. Wer würde ihm das verdenken?
Wir sind auch nicht laut mit ihm. Wir sind auch nicht aggressiv. Manchmal streicheln wir ihn — aber wenn er nicht mehr will, macht er es uns deutlich; also lassen wir es.
Ich denke, das ist eine ganz natürliche Entwicklung. In Freiheit ist man lieb von Natur aus, weil man sonst keinen Anschluss findet. Wir würden Kutshe nicht in unserer Nähe lassen, wenn er aggressiv wäre. Er hätte keine Chance, von uns oder jemandem anderes Futter oder auch nur Gemeinschaft zu bekommen.
Die Sklavenhunde in den Höfen um unser Haus herum, gebärden sich dagegen laut und aggressiv. Sie bellen häufig und lange. Wie aber auch nicht: Sie sind eingesperrt, angekettet und abhängig von der Gunst ihres Herrschers. Lieb sein müssen sie nicht mehr; das Fressen kommt ohnehin. Womöglich werden sie sogar belohnt für Aggressivität, wenn der Herrscher meint, dadurch würde sein Besitz geschützt.
Kutshe hingegen ist frei. Das bedeutet nicht, dass er sorgenlos ist. Er muss sich seine Futterquelle auch erschließen. Das ist bestimmt nicht einfach. Vielleicht geben wir ihm mal was, vielleicht aber auch nicht. Wir wollen unsere Freiheit behalten; er soll seine behalten. Wenn wir mit dem Füttern anfangen würden, träte eine Reduktion ein. Wir würden uns verpflichtet fühlen, ihn zu unterstützen; er würde mehr und mehr “unser” Hund. Das wollen wir nicht.
Wir mögen Kutsche. Der Preis für unsere Zurückhaltung beim Füttern ist allerdings, dass wir eine bestimmte Nähe von ihm wahrscheinlich nicht bekommen. Aber das ist ok. Wir wollen ihm (und uns) die Freiheit gönnen. Falls das bedeutet, ihn eines Tages einfach nicht wiederzusehen, sei das eben so. Wir haben keine Verantwortung für ihn; er hat keine Verantwortung für uns. Keine Fürsorgeerwartung nirgendwo. Mit Kutshe könnten wir auch keinen Vertrag eingehen.
Kutshe kann sich ja auch überlegen, was er mit solchen Menschen macht, die ihm Gesellschaft leisten im Wald, aber kein Futter anbieten. Vielleicht findet er das irgendwann zu wenig und zieht weiter. Vielleicht ist das aber auch genau richtig für ihn. Warum auf uns als Bezugspersonen fixieren? Mit uns kann er mitlaufen, mit dem Nachbarn nicht. Beim Nachbarn bekommt er Futter, bei uns nicht. Der Mix machts.
In Kutshe habe ich ein Beispiel vor meinen Augen, wie das Leben in Freiheit ist. Er ist mir in einigem voraus. Ich sehe die positiven Seiten, die für mich überwiegen. Es gibt auch eine Menge zu lernen übers Loslassen oder “Nichtanhaftung”. Denn das bedeutet Freiheit: weder sich an den anderen kleben, noch den anderen an sich kleben. Die Beziehung kann sich jederzeit ändern. Verlust kann eintreten.
Selbstverständlich ist Freiheit kein Schlaraffenland in dem alle Probleme sich in Luft auflösen. Manche Probleme beginnen dort sogar erst, nämlich die, die wir gewohnt sind, durch Kontrolle, durch Zwang zu lösen. Ist das schlimm? Nein. Nur anders. In Freiheit müssen wir nur andere Lösungen finden. Das ist immer machbar. Davon bin ich überzeugt. Diese Lösungen sind dann auch besser — eben weil sie die Freiheit nicht zerstören, sondern auf ihr aufbauen.
Freiheit zuerst. Dann alles andere.
"Selbstverständlich ist Freiheit kein Schlaraffenland in dem alle Probleme sich in Luft auflösen. Manche Probleme beginnen dort sogar erst, nämlich die, die wir gewohnt sind, durch Kontrolle, durch Zwang zu lösen. Ist das schlimm? Nein. Nur anders. In Freiheit müssen wir nur andere Lösungen finden. Das ist immer machbar."
Gut geschrieben!