Eine bessere Idee ist nicht nötig
Wieder so ein Missverständnis: dass “besser wissen” eine Voraussetzung dafür sei, Kritik üben zu dürfen.
Bei LinkedIn bin ich über diesen Kommentar gestolpert:
Der Kommentator fordert den Kritiker auf zu erklären, wie denn die Regierung reagieren und handeln soll, wenn schon nicht so, wie sie es tut. Der Kritiker muss es doch wissen, sonst würde er keine Kritik üben. Nein, noch strenger: Der Kritiker darf nur Kritik üben, wenn er es besser weiß.
Das ist die Annahme hinter diesem Kommentar, der stellvertretend ist für viele, die als Schnellschuss auf Kritiker abgefeuert werden. Denn hat nicht schon Goethe gesagt: “Besser machen, nicht nur tadeln, soll den rechten Meister adeln”?
Ich halte das für eine gefährliche Haltung. Zumindest ist sie kontraproduktiv, wo Veränderungen nötig sind. Denn dass die nötig sind, bestreitet ja nicht einmal der Kommentator. Auch er ist nicht glücklich über die politische Situation — nur maßt er sich nicht an, es besser zu wissen. Deshalb kritisiert er nicht laut die Regierung, sondern nur den Regierungskritiker.
Die Annahme, Kritik nur äußern zu dürfen, wenn man auch selbst eine Lösung in der Tasche hat, ist auch falsch, weil solches Verhalten ganz offensichtlich nicht der Realität entspricht. Selbst der Kommentator wird sich beim Friseur über einen schlechten Haarschnitt beschweren, ohne ihn besser machen zu können. Er wird sich beim Arzt über Krankheitssymptome beklagen, ohne selbst die Therapie zu kennen. Er wird dem Handwerker Vorhaltungen über schlechte Arbeit machen, ohne selbst Meister in dem Handwerk zu sein.
Warum sollte die politische Sphäre von solch völlig legitimer und verständlicher Konsumentenhaltung ausgenommen sein?
Ist der Kommentator zufrieden mit der politischen Situation? Nein? Dann soll er das laut äußern und kritisieren. Nicht unhöflich, nicht unsachlich, aber gern sehr deutlich. Und er muss nicht wissen, wie die Situation mit der Ukraine “handwerklich” gelöst wird oder die Inflation vermieden oder die Arbeitslosigkeit bekämpft oder die wachsende Ungleichheit verringert werden könnte.
Nein, der höflich-sachliche Kritiker muss keine Lösung in der Tasche haben. Er darf und soll kritisieren und dabei seine Werte klar benennen. Das reicht.
Nichts anderes tun doch auch Wähler. Wer bei der nächsten Wahl die AfD wählt, weil er mit Rot-Grün-Geldb nicht zufrieden war, übt ganz offensichtlich Kritik — ohne wissen zu müssen, wie denn genau es besser zu machen wäre. Es hofft lediglich, dass die Politiker, denen er nun sein Vertrauen ausspricht, davon eine Idee haben. Eine bessere als die bisher Regierenden.
“Ich weiß nicht, wie es besser wird, aber ich weiß, dass es so, wie es ist, nicht gut ist. Das spreche ich jetzt deutlich aus.”: Ist das nicht die Grundlage jeder Demokratie? Es wird offen ausgesprochen, was bewegt. Meinung kann frei geäußert werden, ohne sie begründen zu müssen und ohne Missstände selbst beheben zu können.
Zu fordern, dass Kritiker es besser wissen müssen, ist eine Form von Ausgrenzung: “Du darfst deine Meinung nicht äußern, weil du ja nicht weißt, wie es besser gemacht werden könnte.” Eine Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, sollte sich auf davor hüten. Der Kommentator könnte sich sonst alsbald zu einem anderen Thema, bei dem er sich Luft macht, ebenfalls in die Schranken verwiesen sehen, nur weil er gerade nicht weiß, wie einem Missstand konkret Abhilfe verschafft werden kann.
Also: Vorsicht mit dem Absprechen der Berechtigung, eine Meinung zu äußern. Jede Begrenzung kann sich als Bumerang erweisen.