Eintritt ins Maskenzeitalter
Vom Selbstschutz zum Fremdschutz. Die Maske läutet einen Paradigmenwechsel bei der Kleidung ein.
Welches dieser Dinge ist anders als die anderen? Das hört sich nach Sesamstraße an, ist aber nicht so lustig. Das hört sich nach einer Frage für Kinder an, ist aber eine ernste Frage an Erwachsene.
Welches Kleidungsstück unterscheidet sich von den anderen kategorial? Es geht nicht um einen Unterschied in Farbe, Stoff, Größe, Körpernähe, Körperteil.
Hat ein Schuh eine kategorial andere Funktion als eine Mütze? Ist der Zweck einer Hose ein kategorial anderer als der eines T-Shirt? Unterscheiden sich Handschuhe von Unterhose? Nein.
Alle Kleidungsstücke haben eine Schutzfunktion. Sie schützen den Träger vor Wind&Wetter oder auch den Blicken anderer — oder den Ausscheidungen derjenigen, denen man nahe kommt. Es sind Mittel zum Selbstschutz.
Ein Kleidungsstück geht allerdings darüber hinaus: die Maske.
Die Schutzfunktion der Maske soll heute gar nicht vor allem dem Träger dienen, sondern anderen. Zweck der Maske ist der Fremdschutz. Deshalb auch der Pflicht zum Maskentragen. Das macht die Maske kategorial anders als die Mütze, die Hose, die Schuhe, die Handschuhe.
Mit der Maske als fremdschützendes Kleidungsstück tritt die Menschheit in ein neues Zeitalter ein.
In allen Jahrzehntausenden seit Erfindung von Körperbedeckung ging es um den Selbstschutz. Wer meinte, sich nicht Wind, Kälte, Sonne oder Blicken aussetzen zu wollen, der zog sich etwas an. Wem es warm oder kühl genug war, wen die Blicke anderer nicht störten, der zog sich weniger oder nichts an.
Im Maskenzeitalter ändert sich diese Funktion der Kleidung. Wer sich kleidet, soll nicht mehr nur an sich denken, sondern an all die anderen! Als Ausscheider soll er sich darum bekümmern, dass er anderen mit seinen Ausscheidungen Unwohlsein bereiten könnte oder gar eine Gefahr darstellt. Deshalb soll sich heute eine Maske aufziehen, auch wer sich gesund und nicht bedroht fühlt. Nicht für sich, sondern fürsorglich für den Nächsten.
Heute ist es eine Maske, um vor potenziell virenverseuchten Aerosolen zu schützen. Und morgen? Vielleicht noch Handschuhe, auch wenn es nicht kalt ist, um den anderen vor keimverseuchten Schweißabsonderungen zu schützen, falls eine Berührung oder gemeinsame Nutzung einer Kontaktfläche unausweichlich ist? Und übermorgen? Was, wenn der andere sich durch körperlich Äußere beunruhigt fühlt, sei das natürlich oder gestaltet? Nicht jeder erträgt ohne Schock, wenn ihm ein Gesicht wie diese plötzlich im Bus gegenübersitzt:
Sollte es nicht eine Pflicht zur Bedeckung von Unästhetischem, Verstörendem geben? Wenn Kleidung dem Fremdschutz und der Fürsorge dient, dann wäre das konsequent.
Pflicht zum Fremdschutz bedeutet, dass es andererseits ein Recht darauf gibt, Bedrohlichem oder auch nur Verstörendem nicht mehr ausgesetzt zu werden. Selbstschutz ist nicht mehr nötig, wenn andere zum Fremdschutz verpflichtet sind.
Mir scheint das eine unausweichliche Entwicklung, wenn wir dem nicht unmittelbar Widerstand entgegensetzen. Die Maske ist nur ein jetzt sichtbares Zeichen auf dem Weg in die totale Fürsorgegesellschaft.
Weniger sichtbar, aber schon älter und womöglich perfider ist das, was in der Sprache passiert. Die Maske ist nicht nur Aerosolschutz, sondern auch ein Maulkorb. Sie setzt als Kleidungsstück fort, was in die Redaktionen und Universitäten schon länger Einzug gehalten hat: der Schutz vor Unwohlsein durch bildliche und sprachliche Äußerungen. Der geistige Maulkorb war schon installiert und wird jeden Tag weiter festgezurrt. Er verbietet die Nutzung von Worten, Analogien, grammatikalischen Konstrukten. Erst *Innen dann (m/w/d) dann Schokokuss dann “Reinigung” von Kleiner Hexe. Die Pflicht zum Genderstern ist der Pflicht zur Maske gleichzusetzen. Der Genderstern ist ein Fremdschutz: Unwohlsein beim Leser (generisches Maskulinum) — genauer: bei einer Leserin — soll vermieden werden.
Ich halte das für eine degenerative Entwicklung der Gesellschaft. Sie ist bodenlos. Wenn die Pflicht zum Fremdschutz in den Alltag übergreift, gibt es keine natürliche Grenze. Beim Selbstschutz wird die für jeden durch das eigene (Un)Wohlsein gezogen. Beim Fremdschutz hingegen kann niemand je sicher sein, nicht einem anderen zu begegnen, der sich unwohl oder bedroht fühlt und deshalb Fremdschutz einfordert. Und weil im Maskenzeitalter der Konsens nicht Selbstschutz, sondern Fremdschutz ist, ist derjenige suspekt, der sich ihm verschließt und damit sein Gegenüber zum Unwohlsein verurteilt. Subjektive, persönliche, individuelle Angst wird zum Maßstab nicht der eigenen Handlung, sondern zur Forderung an anderen. Wer sich unwohl fühlt hat Recht und darf Linderung von anderen fordern.
Das kann nicht friedlich und in geistiger Gesundheit enden. Im Maskenzeitalter lebt jeder in der ständigen Ungewissheit, nicht genug für den Schutz des anderen getan zu haben. Das ist eine Spannung, die niemand auf Dauer aushält.
In einer gesunden, wohlständigen Gesellschaft ist die natürlich Entwicklung hin zu mehr Selbstvertrauen und Erwachsensein und somit Selbstverantwortung. Das soll Gesellschaft leisten: Raus aus der Angst! Erwachsen ist, wer in sich ruht und sich nicht ständig angegriffen fühlt — und wenn doch, sich zu schützen weiß.
Mit dem Maskenzeitalter hingegen wird die Entwicklung umgekehrt. Es findet eine Regression statt. Der Selbstschutz wird aufgegeben. Andere werden für den eigenen Schutz verantwortlich gemacht. So, wie Kinder auf den Schutz durch Erwachsene angewiesen sind. Im Maskenzeitalter ist die Grundhaltung Bedürftigkeit in Ohnmacht. Jeder ist ständig Opfer, die Bedrohung durch andere ist allgegenwärtig oder kann zumindest jederzeit aufflammen. Dem kann nur mit dem Einklagen von Solidarität und Fürsorge entkommen werden.
Willkommen also in der Infantilität! Bitte setzen Sie Ihre Maske auf. Sie müssen verstehen, dass Sie eine Bedrohung für hilflose andere darstellen.
#corona #gesellschaft