Es geht nicht um die Menschen
Die Propaganda ist wieder los. Auch die Solidarität geht wieder um. Das Thema dieses Mal: Russlands Angriff auf die Ukraine.
Ich merke, wie das Thema bei mir aber so gar nicht greifen will. Ich bin teilnahmslos. Niemand verdient mehr mein Vertrauen, nicht die Leitmedien, nicht die “Bürgerjournalisten” vor Ort, nicht die Aufschreienden bei LinkedIn, Facebook & Co.
Ich kann das nicht mehr hören. Jeder behauptet mit seiner Position ab-so-lut recht zu haben. Es kann nur ein Urteil geben. Wo die Welt schwarz und weiß ist, ist weiß alternativlos.
Doch warum sollte in der Angelegenheit Ukraine plötzlich alles anders sein? Wo in der Corona-Pandemie Propaganda betrieben wurde, Zahlen unterdrückt und zurechtgebogen oder ganz vermieden wurden, wo also kurz gesagt Lug & Trug an der Tagesordnung war (und immer noch ist), um eine Bundesagenda einzupeitschen, da herrscht nun reiner Edelmut?
Das ist nicht anzunehmen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt auch, dass ich damit nicht so falsch liegen kann. Hier nur ein Bericht von vielen, der Kritik an der Berichterstattung in Sachen Ukraine übt: Programmbeirat wirft ARD "antirussische Tendenzen" vor, aus dem Spiegel als er noch unabhängiger schrieb im Jahr 2014. Dass die Berichterstattung in den Leitmedien seitdem besser geworden ist, ist ebenfalls nicht anzunehmen. Dazu kommen die sozialen Medien, in denen reale Menschen, sock puppets und Bots um die Aufmerksamkeit heischen — für die eine Sichtweise wie die andere.
Ich kann das nicht mehr ernst nehmen. Die Medien haben ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Aktuelles, eine Tagesberichterstattung… das ist für mich Rauschen ohne Informationswert. Umso mehr, je verzweifelter die Solidaritätsbekundungen und je flehender die Appelle an Regierungen, es mit dem Krieg doch endlich sein zu lassen.
Ich nehme den social media Engagierten ihre Betroffenheit nicht ab — denn es gibt nicht erst seit dem Ukraine-Konflikt Krieg und Leid, das durch Eingreifen von Regierungen verhindert werden könnte, aber keine, wirklich keine Solidarität regt sich. Wann wurden die social media mit Flaggen von Syrien oder Irak oder Afghanistan oder Mail usw. geflutet? Wann waren 200.000 auf der Straße gegen die Verteidigung Deutschlands am Hindukush? Wo sind die empörten Solidaritätsbekundungen für hungernde Menschen oder beschnittene Frauen oder ausgebeutete Farmarbeiter? 24/7 365 Tage im Jahr könnten über Leiden Unschuldiger Empörte auf der Straße stehen und Politikwechsel fordern. Nur, sie tun es nicht. Weil es weniger zu ihrem Lebensstil passt, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen, oder die Themen politisch weniger auf der öffentlichen/medialen Agenda stehen oder weil sie noch nicht von Propaganda aufgeheizt sind… Was auch immer. Sie sind still. Aber sie sind nicht unwissend. Und so bedeutet für mich umgekehrt, wenn sie nicht still sind, dass sie auch nicht wirklich an der Sache und den Menschen Interesse haben. Ukraine-Flaggen schwenken ist gerade so angesagt wie auf den Balkonen klatschen weiland im April 2020.
Die Menschen sind nicht wirklich an den Menschen interessiert; sie reagieren auf Bilder. Die Regierungen sind es auch nicht, nicht in den USA, nicht in Russland, nicht in der Ukraine, auch nicht in Gut-Deutschland. Ich habe Egon Bahr schon einmal zitiert und tue es gern wieder. Seine Aussage als Regierungsinsider ist für mich so prägnant wie einleuchtend:
“In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.”, Egon Bahr
Regierungen interessieren sich nicht für Menschen. Sie interessieren sich für Erhalt und Schutz ihre eigene Stabilität bzw. die des Staates. Wie in der Corona-Pandemie geht es um Systemschutz. Systemschutz ist etwas anderes als Individuenschutz.
Das macht auch dieses Buch sehr deutlich. Im Kapitel über Russland kann man dort einiges zur Ukraine lesen (siehe auch den Anhang hier am Ende).
Das ist für mich zeitlose informierende Lektüre. Hier gehts ans Wurzelproblem jenseits der Aufregungen des Tages.
Staaten sind keine Menschen. Staaten interessieren sich für ihre Sicherheit innen wie außen und für Ressourcen. Wenn zufällig Menschen Ressourcen für Stabilität eines Staates sind, nutzen Staaten auch Menschen.
Dass Menschen Staaten lenken — Putin, Biden… Scholz usf. —, ist für diese Realität unerheblich. Diese Menschen sehen in ihren Rollen nur wie Menschen aus; in Wirklichkeit sind sie Teil des Staatssystems. Sie stehen ihren Opfern im eigenen Land und in fremden nie Aug’ in Aug’ gegenüber. Sie können kein Mitgefühl entwickeln und wollen es auch nicht. Ihre Aufgabe ist Staatsführung. Der Staat verlässt sich auf ihre “Unmenschlichkeit”. Für die Entfremdung dieser Rollenausfüller von den Menschen sind Regelgebäude etabliert worden; die Entkopplung der Rollenausfüller von den Auswirkungen ihrer Entscheidungen ist Programm. Und können sie sich der Menschlichkeit dennoch nicht entledigen… dann entledigt der Staat sich ihrer.
Die tränengerührten Appelle in den social media sind deshalb von vornherein nutzlos und fehlgeleitet. Sie wirken einzig aufs Gemüt der Leser, die samt und sonders nicht in der Ukraine leben. Und offiziellere professionelle Darstellungen sind propagandagetränkt. Das ist nicht anders möglich beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk/Fernsehen, das ist auch nicht anders möglich bei (scheinbar) unabhängigen Medien. Der simple Grund: propaganda sells. Propaganda polarisiert durch ihre schwarz-weiß Haltung; die ergibt sich aus dargestellter moralischer Überlegenheit. Nur mit diesem Kontrast ist noch Aufmerksamkeit zu gewinnen, der nötig ist, um Geld vom einen oder anderen einzutreiben.
Deshalb bin ich teilnahmslos. Einstweilen. Denn irgendwann wird sich der Nebel lichten. Irgendwann kommen die Lügen dieser wie jener Seite auf den Tisch. Sie werden dann eher nicht in den Leitmedien zu lesen sein, sondern in Büchern oder ausführlich recherchierten Reportagen. Das big picture entfaltet sich immer nur langsam. Deshalb ist es meist auch nicht in der Tagespresse zu finden. Langsam ist uninteressant für die Massen. Zu wenig Aufregung in Langsam.
Wer das nicht findet, der kann hier z.B. schon ein big picture über “die Guten” betrachten:
Auf solche Bücher warte ich. Sie existieren, mehr werden kommen. Zu Corona, zur Ukraine, zur Energiepolitik, zum Klimawandel. Bis dahin versuche ich Ruhe zu bewahren und schaue mich um nach Prinzipien, Mustern, Gesetzmäßigkeiten unterhalb der Tagespolitik.
Anhang
Dass es nicht um Menschen geht, sondern geopolitische Interessen, zeigt auch diese Aufstellung von Rohstoffen und Leistungen der Ukraine. Ich habe sie aus einem Facebook-Beitrag und nur punktuell gecheckt. Die Ukraine “im Sack zu haben”, ist hüben wie drüben also ein sehr verständlicher Wunsch.
It is the second largest country by area in Europe by area and has a population of over 40 million - more than Poland.
Ukraine ranks:
1st in Europe in proven recoverable reserves of uranium ores; [Scheint plausibel]
2nd place in Europe and 10th place in the world in terms of titanium ore reserves;
2nd place in the world in terms of explored reserves of manganese ores (2.3 billion tons, or 12% of the world's reserves); 2nd largest iron ore reserves in the world (30 billion tons);
2nd place in Europe in terms of mercury ore reserves;
3rd place in Europe (13th place in the world) in shale gas reserves (22 trillion cubic meters)
4th in the world by the total value of natural resources;
7th place in the world in coal reserves (33.9 billion tons) [Platz 6 bei Steinkohlereserven]
Ukraine is an important agricultural country: [sehr plausibel]
1st in Europe in terms of arable land area;
3rd place in the world by the area of black soil (25% of world's volume);
1st place in the world in exports of sunflower and sunflower oil;
2nd place in the world in barley production and 4th place in barley exports;
3rd largest producer and 4th largest exporter of corn in the world;
4th largest producer of potatoes in the world;
5th largest rye producer in the world;
5th place in the world in bee production (75,000 tons);
8th place in the world in wheat exports;
9th place in the world in the production of chicken eggs;
16th place in the world in cheese exports.
Ukraine can meet the food needs of 600 million people.
Ukraine is an important industrialised country:
1st in Europe in ammonia production;
Europe's 2nd’s and the world’s 4th largest natural gas pipeline system;
3rd largest in Europe and 8th largest in the world in terms of installed capacity of nuclear power plants;
3rd place in Europe and 11th in the world in terms of rail network length (21,700 km);
3rd place in the world (after the U.S. and France) in production of locators and locating equipment;
3rd largest iron exporter in the world
4th largest exporter of turbines for nuclear power plants in the world;
4th world's largest manufacturer of rocket launchers;
4th place in the world in clay exports
4th place in the world in titanium exports
8th place in the world in exports of ores and concentrates;
9th place in the world in exports of defence industry products;
10th largest steel producer in the world (32.4 million tons). [Wikipedia]