Faktenfrei
Fakten sind zu Waffen geworfen. Wir nutzen sie, um Andersdenkende von uns fern zu halten. Wir glauben, mit ihnen könnten wir Andersdenkende konvertieren.
Der Begriff Faktum ist verkommen.
Was einstmals der Gipfel menschlicher Vernunft war, sich nicht von Glauben, sondern von Fakten leiten zu lassen, ist zusammengestürzt zu einem Haufen kindlicher Rechthaberei.
Der Beleg für diese Regression ist der Aufschwung der Faktenchecker.
Fakten müssen jedoch nicht gecheckt werden. Fakten sind… Fakten. Entweder ist etwas so, wie behauptet, dann ist das ein Faktum. Oder etwas ist nicht wie behauptet, dann ist es kein Faktum. In der widersinnigen Bezeichnung Faktencheck drückt sich mithin schon ein Faktenwahn aus.
Wenn etwas gecheckt werden kann, dann sind es Behauptungen, also Meinungen. Ob Behauptetes wahr ist, kann und soll überprüft werden, wenn Zweifel bestehen. Nicht mehr, nicht weniger.
Dass Behauptungen nicht mehr von Fakten unterschieden werden, gehört zum Problem. Meinungen sind zu schwach geworden. Meinungsverschiedenheit scheint nicht mehr auszuhalten zu sein.
Über Meinungen kann man noch streiten. Das kostet Zeit. Da ist das Ergebnis unsicher. Nun scheinen wir uns als Gesellschaft dahin entwickelt zu haben, darauf nicht mehr warten und eine andere als uns genehme Meinung nicht mehr tolerieren zu können.
Deshalb Fakten statt Behauptungen. Faktum sticht Meinung.
Wer im Besitz der Fakten ist, muss mit niemandem mehr diskutieren. Fakten sind alternativlos. Es gibt nur eine Realität. Wo die nicht (an)erkannt wird, herrscht Verblendung.
Die ersten, die von Meinungen auf Fakten aufgerüstet haben, hatten für einen Moment die Oberhand. Wer noch an den Meinungsaustausch geglaubt hatte, war überrumpelt. Fakten schienen eine übermächtige Waffe. Wer von einigem Verstand würde sich ihnen widersetzen wollen?
Doch dieser einseitige Gewinn der Fraktion der Faktischen war nur von kurzer Dauer. Ein Nachrüsten und Wettrüsten ließ nicht lange auf sich warten. Und so ist die Meinung verschwunden, der diplomatische Austausch hat aufgehört. Hüben wie drüben nur noch Fakten. Wahre Fakten gegen echte Fakten.
Was dem Militär die Panzerfaust und die Raketenabwehr, das ist in diesem Krieg der Fakten der Faktencheck. Und wenn der Faktencheck das Ziel nicht erreicht, dann der Nahkampf: Diffamierung, Zensur. Der Faktencheck ist die Distanzwaffe, der persönliche Angriff das Bajonett.
Zu Zeiten von Meinungen gab es noch einen Austausch. In Zeiten der Fakten kann es keinen Austausch mehr geben. Das Gespräch, die bidirektionale Kommunikation hat sich überlebt. Wahre wie echte Fakten sind ja unzweifelhaft, weil sie Fakten sind. Worüber soll es noch einen Austausch geben? Anderes Denken ist schlicht nicht mehr valide, weil es nicht faktenbasiert ist. Andersdenkenden kann man nur versuchen, die Fakten mitzuteilen - dann muss sich ihr Denken zwangsläufig ändern. Die dafür ausreichende Kommunikation ist der Monolog - je lauter, desto erfolgsversprechender. Sobald der jedoch nicht zu einer Konversion der Andersdenkenden führt, ist der Kommunikationsabbruch konsequent: Abstand, ghosten, canceln, verbieten.
Deshalb ist nur noch Kampf. Darin sind die Fakten Waffen. Und so wie das Faktum ist auch der Kampf schwarz/weiß und alternativlos: Das Faktum kennt nur die absolute Wahrheit, der Kampf kennt nur den absoluten Gewinn.
Das muss aufhören. Wenn wir als friedliche, wohlständig fortschreitende Gesellschaft eine Zukunft haben wollen, müssen wir aus dem Kampf mit Fakten aussteigen. Wir müssen uns frei machen von der Fixierung auf Fakten.
#faktenfrei