Freiheit muss unverbrüchlich sein
Wie die Einschränkung von Freiheiten zu einer Regression der Gesellschaft führt, sie krank macht und ihr Überleben gefährdet
Warum eigentlich diese ganze Aufregung über Freiheitseinschränkungen? Was ist das mit der Freiheit, dass ihre Reduktion für mehr Gesundheit manche Menschen so anfasst? Mich eingeschlossen. Ich will da mal genauer hinschauen…
Soviel ist mir schon klar: Freiheit ist kein Selbstzweck. Sie sollte deshalb nicht auf einem Podest stehen und absolut gesetzt werden. Freiheit ist nur ein Mittel. Aber wofür?
Um das zu verstehen ein Schritt zurück ins Grundsätzliche:
Was mich bewegt
Ich fühle mich angetrieben von Zuneigung und Abneigung. Zuneigung zieht mich zu etwas hin, Abneigung treibt mich von etwas weg.
Gefühle der Zuneigung sind Neugierde, Freude, Liebe, Lust. Gefühle der Abneigung sind Angst, Frustration, Wut, Müdigkeit.
Regungen der Zu- bzw. Abneigung steigen in mir auf. Einfach so. Manchmal kann ich sie kommen sehen, manchmal überraschen sie mich.
Wenn mich Abneigung überkommt, dann will ich mich von etwas distanzieren. Ich will weniger davon, ich will weg. Im Extrem bedeutet das Flucht oder, wenn die nicht möglich ist, Zerstörung dessen, was mich bedroht. Fühle ich mich zu beidem außerstande, kann ich noch versuchen, mich für das, von dem ich weg will, unkenntlich zu machen, d.h. ihm keine Oberfläche, keine Angriffsfläche zu bieten. Die kategorialen Reaktionen der Abneigung sind flight, fight, freeze.
Bei Zuneigung hingegen suche ich Nähe. Ich will mehr davon, ich will dort sein. Im Extrem bedeutet das Anbindung bis zur Abhängigkeit oder Vereinnahmung. Die originäre Zuneigung kann allerdings umschlagen in eine Abneigung gegenüber dem Verlust des “Objektes der Begierde”. Die kategorialen Reaktionen der Zuneigung sind search, touch, hold.
Was hat das mit Freiheit zu tun?
Gemeinschaft beschränkt meine Bewegungsfreiheit
Der Begriff Freiheit macht nur Sinn in Bezug auf eine Gemeinschaft.
Robinson allein auf seiner Insel zerbricht sich den Kopf nicht über Freiheit. Sein Thema sind Möglichkeiten. Alles, was ihm möglich ist, steht ihm auch frei.
Erst innerhalb einer Gemeinschaft steht es nicht mehr jedem Mitglied frei, Möglichkeiten jederzeit zu nutzen. Gemeinschaften zeichnen sich durch Regeln aus, die die individuellen Freiheitsgrade zur Nutzung von Möglichkeiten begrenzen. Diese Regeln sind das Mittel, um einen stabilen Zusammenhalt zwischen Menschen zu ermöglichen. Ob diese Regeln intuitiv/implizit sind oder erarbeitet/explizit, ist unerheblich. Sobald ich auf andere Menschen stoße oder sogar mit ihnen zusammenleben will, braucht es Regeln der freiwilligen Selbstbeschränkung für den Umgang mit dem grundsätzlich Möglichen.
Meine Zu- und Abneigungen regen sich natürlich auch innerhalb einer Gemeinschaft. Sie treiben mich an und wollen befriedigt werden. Das kann nun jedoch nur noch in den durch die Gemeinschaft festgesetzten Grenzen geschehen. Relevant ist nicht mehr so sehr mein Vermögen, das Mögliche zu tun, sondern nur noch der Ausschnitt des Möglichen, in dem mir freigestellt ist, zu tun, was ich darf.
Idealerweise vergrößert eine Gemeinschaft die Zahl der Möglichkeiten; idealerweise vergrößert sie auch mein Vermögen. Warum sonst sollte ich einer Gemeinschaft beitreten? Allerdings beschränkt eine Gemeinschaft andererseits die Nutzung meines Vermögens auf das Erlaubte: Ich darf nicht alles das tun, was ich könnte.
Diese grundsätzliche Beschränkung meiner Freiheit bin ich bereit als Preis dafür zu zahlen, dass die Gemeinschaft meine Möglichkeiten und mein Vermögen vermehrt oder zumindest leichter erhalten hilft. Wenn die Schnittmenge zwischen Vermögen und Erlaubtem — mein Freiraum — größer ist, als mein Vermögen außerhalb der Gemeinschaft, scheint eine Mitgliedschaft eine gute Entscheidung.
Bei der ganzen Diskussion, ob Freiheiten eingeschränkt sind oder nicht, ob das schlimm ist oder nicht, geht es also um diesen Freiraum.
Warum liegt mir dieser Freiraum am Herzen?
Ich brauche Verlässlichkeit
Meine Zu- und Abneigungen treiben mich hierhin und dorthin. Mich drängt es, ihnen zu folgen. Ich suche Wege, wie ich mich distanzieren oder nähern kann, um meine Regungen zu befriedigen.
Wenn mich Durst antreibt, etwas zu trinken, suche ich nach einer Flüssigkeitsquelle. Wenn mich Angst vor einem Hund anfällt, entferne ich mich von ihm. Die Vielfalt der Zu- und Abneigungen ist wohl unendlich und ständig in Wallung.
Für kurze Momente mag ich “in Frieden sein”, d.h. weder von Zuneigung noch von Abneigung getrieben. Doch meistens bewegt mich das eine oder andere. Erst, wenn ich mich erfolgreich angenähert habe oder erfolgreich auf Distanz gegangen bin, bin ich wieder “im Gleichgewicht”.
Mensch sein bedeutet nun, dass wir Kontrolle darüber haben wollen, uns ins Gleichgewicht bringen zu können. Neugierde und Lust wollen befriedigt werden. Angst oder Wut wollen wir vermeiden. Wenn das eine oder andere in uns aufsteigt, wollen wir die Mittel haben, um wieder zur Ruhe zu kommen.
Das, was es dazu braucht ist…
die Möglichkeit, die Regung zu befriedigen; bei Durst wäre das die Existenz einer Wasserquelle, bei Angst wäre es die Existenz eines Fluchtweges
das Vermögen, die Möglichkeit auch zu benutzen; eine Wasserquelle muss erreichbar sein, z.B. fußläufig erreichbar und nicht verschlossen, der Fluchtweg sollte nicht abgeschlossen sein
die Freiheit, das Vermögen auf die Möglichkeit anzuwenden; es braucht eine Erlaubnis, die erreichbare Wasserquelle oder den unverschlossenen Fluchtweg zu nutzen
Wir sind frustriert, wenn wir keine Möglichkeit sehen, unserer Regung zu folgen. Wir sind doppelt frustriert, wenn wir eine Möglichkeit sehen, aber unser Vermögen nicht ausreicht, sie zu nutzen. Wütend jedoch werden wir, wenn wir Möglichkeit und Vermögen besitzen, uns aber nicht frei fühlen, unserer Regung zu folgen.
Uns drängt alles, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Wenn dann nur die Erlaubnis fehlt… ist das sehr, sehr unbefriedigend. Das ist an Kindern gut zu beobachten: Wenn Kinder etwas nicht können, ihnen also Vermögen fehlt, reagieren sie ganz anders, als wenn sie etwas können, aber man ihnen etwas verbietet.
Es ist schwer genug, sich unvermögend zu fühlen. Noch schwerer jedoch ist es, nur aufgrund eines Verbotes, das ja im Grunde willkürlich ist, weil eine Setzung der Gemeinschaft, keine Kontrolle darüber zu haben, eine Regung zu befriedigen. Vermögen zu haben, es aber nicht nutzen zu dürfen, fühlt sich ungerecht an.
Als Menschen brauchen wir die Verlässlichkeit, unsere Regungen befriedigen zu können. Dass wir von Zu- und Abneigungen hin und her getrieben sind, ist unvermeidbar. Wir können das nicht abstellen. Umso weniger, je mehr wir von außen angeregt werden. Umso weniger, da unsere ganze Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft darauf basiert: ständige Anregung durch Erzeugung von Lust (“Das will ich haben!”) und Angst (“Was ich habe, will ich nicht mehr verlieren!”).
Vertrauen in die Verlässlichkeit entsteht vor allem, wenn Menschen sich selbstwirksam erfahren. Wenn sie bei gegebenen Möglichkeiten ein hohes Vermögen besitzen, ihren Regungen zu folgen, und sich auch noch frei dazu fühlen, können sie innere Ruhe durch Selbstvertrauen entwickeln.
Ohne Selbstwirksamkeit kann Verlässlichkeit nicht selbst hergestellt werden, sondern Bedarf der Sicherstellung durch andere. Selbstvertrauen kann sich nicht entwickeln; es braucht ein Vertrauen in andere. Wo Regungen nicht selbst befriedigt werden können, entsteht mithin Abhängigkeit.
Kinder können über lange Zeit nicht anders, als auf andere zu vertrauen; das macht ihre Kindheit aus. Erwachsensein andererseits besteht darin, sich selbst zu vertrauen, selbstwirksam zu sein und nicht abhängig.
Natürliches Aufwachsen, organische Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass das Vermögen wächst und sich der Freiraum weitet. Das gilt für Individuen und auch Gemeinschaften.
Was, wenn das aber nicht der Fall ist?
Schrumpfender Freiraum macht aggressiv
In einer Gemeinschaft mit ihren Möglichkeiten zeichnen sich die Mitglieder durch individuelles Vermögen und individuelles Selbstvertrauen sowie notwendiges Fremdvertrauen im Rahmen des abgesteckten Freiraums aus.
Wenn nun dieser Freiraum eingeschränkt wird, dann hat das noch keine Auswirkungen auf die Möglichkeiten und zunächst auch noch nicht auf das individuelle Vermögen, sondern vor allem auf das Vertrauen:
Das Selbstvertrauen nimmt ab, da selbst existierendes Vermögen nicht mehr wie bisher dazu genutzt werden darf, die Befriedigung von Regungen zu kontrollieren.
Das Fremdvertrauen muss zunehmen, da anders als durch den Aufbau von Abhängigkeit die Befriedigung von Regungen nicht verlässlich sein kann.
Menschen, die bemerken, dass ihr Selbstvertrauen in Frage steht, deren Selbstwirksamkeit abnimmt, die die Kontrolle über die Befriedigung ihrer Regungen verlieren, reagieren darauf nicht erfreut: Sie entwickeln Frust und Wut, sie verlieren die Orientierung, sie trauern, sie bekommen Angst. Umso mehr, wenn die Einschränkung nicht Folge einer Reduktion der Möglichkeiten ist, sondern der Freiheiten.
Auch gehen erwachsene Menschen ungern Abhängigkeiten ein. Das ist jedoch nötig, wenn die Selbstwirksamkeit reduziert wird. Sie können ihr abnehmendes Selbstvertrauen nur kompensieren, wenn sie Fremdvertrauen aufbauen, also sich darauf verlassen, dass ihre Regungen durch andere Befriedigung finden werden.
Doch worum sollen sich andere kümmern? Zu- und Abneigungen sind individuell; exponentiell gesteigert wird das noch durch den Kapitalismus. Dass also andere verlässlich meine Zu- und Abneigungen befriedigen, ist kaum zu erwarten. Fremdvertrauen ist daher von vornherein auf Sand gebaut.
Und so ist das Abgleiten in Verzweiflung unausweichlich. Eine Reduktion des Freiraums nimmt das Selbstvertrauen und Fremdvertrauen kann das nicht kompensieren. Die sich ausweitende Kontrolllücke lässt spannungsgeladene Ohnmacht entsteht.
Eine Zeit lang mag Verzweiflung erträglich sein, allemal wenn schrumpfender Freiraum nicht willkürlich erscheint, d.h. gemeinschaftsgetrieben, sondern sich aus einer Reduktion der Möglichkeiten ergibt. Wenn nur die Möglichkeiten abnehmen, aber nicht die gewährten Freiheiten, fühlen sich Menschen angespornt, ihr Los zu verbessern; sie tun alles dafür, den Möglichkeitsraum zu erweitern. Das Beste in ihnen wird herausgekehrt.
Sind die Möglichkeiten jedoch unverändert und der Freiraum wird willkürlich reduziert, sind also Entscheidungen anderer Menschen die Ursache für den Selbstvertrauensverlust, sieht es anders aus. Das Schlechteste in den Menschen wird herausgekehrt.
Dass andere das eigene Selbstvertrauen beschädigen, ist nur schwer zu ertragen. Aggression ist unausweichlich. Die will explodieren - und kehrt sich entweder gegen andere oder sich selbst. Beides führt zu Schäden am Einzelnen und an der Gesellschaft.
Willkürlich reduzierter Freiraum verändert eine Gemeinschaft drastisch. Sie regrediert, weil ihre Mitglieder aus selbstvertrauenden Erwachsenheit zurückgeworfen werden in kindliches Fremdvertrauen und Abhängigkeit.
Wer schon erwachsen ist, wird das nicht schadlos überstehen.
Wer noch nicht erwachsen ist, wird in seiner Entwicklung begrenzt.
Während eine Freiraumreduktion zunächst nur zu psychischer Belastung und Spannungen führt, weil das Selbstvertrauen angegriffen wird, führt sie über kurz oder lang jedoch zu einer Reduktion des Vermögens. Menschen, die sich nicht frei fühlen, entwickeln sich auch nur begrenzt; ihr Vermögen bleibt hinter ihrem Potenzial zurück. Was schließlich dazu führt, dass auch der Möglichkeitsraum schrumpft, der vor allem durch die Summe wachsender Vermögen aller Gemeinschaftsmitglieder aufgespannt wird.
Warum die ganze Aufregung über die Freiheitsbeschränkungen in der Corona-Pandemie? Weil Freiheit kein Luxus ist. Weil Freiheit das grundsätzliche Mittel ist, gesund zu bleiben als Einzelner und auch als Gesellschaft. Denn wo Freiheit herrscht, kann sich Selbstvertrauen entwickeln. Wo Selbstvertrauen existiert, können sich Menschen für andere öffnen. Wo Menschen sich für andere öffnen, kann Kooperation entstehen. Und wo Kooperation möglich ist, lässt sich der Möglichkeitsraum erweitern.
Freiheit heute, mehr Freiheit morgen ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschheit ihr Los verbessert und auch ihre selbstgemachten Probleme löst.
Dass angesichts des größten Problems, das die Menschheit für sich identifiziert hat, der Klimakatastrophe, weltweit die Freiheiten massiv eingeschränkt werden, ist deshalb widersinnig, kontraproduktiv und letztlich eine zivilisatorische Katastrophe, die jede Behauptung, der Mensch sei die Krone der Schöpfung, ad absurdum führt.
Freiheit ist die “Technologie”, die die Menschen in eine wohlständige Zukunft führen kann. Alles andere baut auf Freiheit auf. Freiheit muss unverbrüchlich sein.
#gesellschaft