Geforderte Solidarität
Zu Anfang der Pandemie wurde die Impfung als Selbstschutzmaßnahme beworben: “Die Pandemie ist vorbei, wenn allen ein Impfangebot gemacht werden kann.” Ein Angebot! Das kann jeder annehmen oder auch ablehnen, ohne Konsequenzen durch den Anbieter zu befürchten.
Doch das ist inzwischen Geschwätz von gestern, das auch die nicht mehr interessiert, die so gesprochen haben. Die Impfung ist kein Angebot mehr, sie ist Pflicht. Mindestens gute Bürgerpflicht, wenn schon noch nicht gesetzliche Pflicht.
Die Pflicht besteht allerdings nicht zum Selbstschutz, wie bei der Gurtpflicht. Nein, die Pflicht ist der Fremdschutz. “Du sollst dich impfen lassen, damit ich direkt geschützt bin oder indirekt.”
Der direkte Fremdschutz soll darin bestehen, dass das geimpfte Gegenüber weniger ansteckend ist.
Der indirekte Fremdschutz hingegen soll darin bestehen, dass das geimpfte Gegenüber weniger wahrscheinlich einen “schweren Verlauf” erleidet und deshalb weniger wahrscheinlich ein Intensivbett benötigt, das dann anderen nicht zur Verfügung steht. Der Gedanke dahinter: Wenn ein “schwerer Verlauf” bei COVID-19 durch eine Impfung vermeidbar ist, ein Schlaganfall oder ein Unfall aber weniger, dann besteht eine Pflicht, durch Impfung das Vermeidbare auch zu vermeiden.
Die Begriffe Pflicht oder Zwang werden natürlich vermieden. Stattdessen appellieren Politiker an Bürger und Bürger untereinander an die Solidarität.
Wer hätte gedacht, dass die Solidarität nochmal zu solchen Ehren kommen würde. In der DDR wurde sie an jede Wand plakatiert; in Westdeutschland war sie hingegen kein Thema außer im Begriff der Solidargemeinschaft, die z.B. die Mitglieder von Kranken- und Rentenversicherungen darstellen.
Mir scheint, dass die Solidarität jetzt so eingefordert wird, gerade weil sie so lange kein Thema war. Die Gesellschaft hat sich über Jahrzehnte aus einem intuitiv solidarischen Zustand nach dem Krieg in den Wiederaufbaujahren in einen grundsätzlich unsolidarischen entwickelt.
Fehlende Solidarität wurde zwar nicht lautstark angemahnt in den vor-Corona Jahren, aber Ungleichheit war ein Thema. Es herrschte also mindestens schon ein dumpfes Gefühl von Solidaritätsmangel.
Ich denke, viele Menschen haben sich unberücksichtigt, zurückgelassen, aus der Gemeinschaft gefallen und Unsicherheiten ausgesetzt gefühlt. Viele Menschen waren nicht mehr zufrieden, es fehlte ihnen eine Perspektive zur Verbesserung ihrer Lage und Hilfe war nicht in Sicht. Von einer Gemeinschaft, gar einer Solidargemeinschaft haben sie nichts gefühlt. Aber was sollten sie tun? Wofür sollten sie Solidarität einfordern von anderen, wenn ihre Misere doch nach landläufiger Meinung im Grunde selbstverschuldet war: Wer wirtschaftlich nicht so gut dasteht, hat sich einfach nicht genügend angestrengt. Oder?
Mit Corona nun hat sich das Blatt gewendet. Jetzt kann jeder Solidarität ganz legitim einfordern! Und das wird “mit Genuss” getan. Das Bedürfnis nach Beachtung, nach Inklusion in die Gemeinschaft ist so groß, dass es sich Bahn bricht in der Forderung zur Solidarität durch Impfung. Darüber lässt sich doch nicht mehr streiten. Da kann es keine zwei Meinungen geben. Krankheit ist nicht selbstverschuldet.
Eine Gesellschaft, die einer natürlichen Solidarität und gegenseitigen empathischen Fürsorge entwachsen war, wird durch die Pandemie auf den Boden evolutionärer Tatsachen zurückgeholt. Es gibt schlicht keine Gemeinschaft, wenn jeder nur auf sich achtet.
Ohne Gemeinschaft, ohne die grundlegende emotionale Sicherheit von Zugehörigkeit ist es schwer, ein gutes Leben zu führen. Viele, zu viele haben zu lange in einem virtuellen Exil gelebt: sie waren zwar nicht physisch des Landes verwiesen, dennoch war ihnen vielfach Teilhabe versagt. Sie fühlten sich nicht gewollt, nicht repräsentiert.
Ich denke, wachsende Anspannung, die dadurch entstanden ist, konnte mehr oder weniger irgendwie lange durch Konsum kaschiert werden. Doch die Corona-Maßnahmen haben nun auch diese Kompensation vereitelt; dazu kommt noch die Angst um Gesundheit und/oder Verlust des ohnehin prekären wirtschaftlichen Status.
Da scheint es mir kein Wunder, dass die Solidarität eingefordert wird. Es is ein verzweifelter Akt geboren nicht nur aus der aktuellen Situation, sondern auch noch angetrieben durch jahrelang aufgestaute Unzufriedenheit.
Dabei ist niemand ausgenommen; der emotionale Mangel einer entsolidarisierten Gesellschaft von Jahrzehnten existiert genauso in der Putzfrau in Ludwigshafen wie in dem Softwareingenieur in Hamburg Eppendorf oder dem Start-up Gründer in Berlin. Alle sind “mühselig und beladen”, alle fühlen sich ohnmächtig und immobil. Alle sind im Grunde einsam.
Und so fordern alle vom Gegenüber endlich solidarisch zu sein in einer Sache, die doch nun wirklich keinen Zweifel zulässt.
Oder ist es umgekehrt? Darf die Sache keinen Zweifel zulassen, damit endlich ein Grund zur Einforderung von Solidarität entsteht?
#corona