Gehe deinen Weg
DO’s and DON’Ts
Jeden Tag will dir jemand erzählen, wie du dein Leben zu leben hast. Was du tun sollst, um glücklich zu sein und wie du deinen Alltag und Freizeit effizient gestalten kannst. Vergeude keine Zeit durch Umwege. Direkt vom Abitur zum Studium, dieses in der Regelstudienzeit mit Bestnoten abschließen, um es in den gut bezahlten sicheren Job zu schaffen. Sieht so Individualität aus? Auch frage ich mich, ob es nicht gerade die Umwege, Fehler und Zufälle sind, die das Leben lebenswert und spannend machen. Wir werden von klein auf bei ziemlich allem, was wir tun, darauf konditioniert, stets schnell ans Ziel zu kommen. Was genau erhoffen wir uns davon? Wenn ich alleine daran denke, dass das Ziel des Lebens zwangsläufig der Tod ist, frage ich mich, ob wir da auch so schnell wie möglich hin wollen. Sicher nicht, oder?!
Schlage einen Reiseführer auf, suche nach Tipps für eine Reise nach Stockholm, Los Angeles oder Rom im Internet und schon wird jemand zum Ausdruck bringen, was du tun und was du besser lassen solltest.
Brauche ich für alles eine Anleitung, brauche ich immer jemanden, der mir exakt sagt, was und wie ich etwas tun soll? Schaue ich mich in einer Buchhandlung um, werde ich von einer schier unendlichen Anzahl von Ratgebern in allen Bereichen des Lebens fast erschlagen. Glauben wir ernsthaft, wir hätten keine Zeit in unserem Leben, die Welt selbst zu entdecken?
Anekdote I
Eine Situation, die möglicherweise die meisten schon einmal erlebt haben, die in einer unbekannten Stadt oder anderen Gegend unterwegs waren.
Wir sind auf der Durchreise in einer fremden Stadt, sitzen in einem Café, trinken frisch gebrühten Americano und sprechen darüber, was wir uns wohl als Nächstes anschauen werden. Wir bemerken, dass am Nachbartisch ebenfalls ein Pärchen sitzt, denen es offensichtlich schwerfällt, sich miteinander zu unterhalten. Der ältere Herr wirkt sehr mitteilsam, schaut ab und zu herüber und versucht, freundlich Kontakt aufzunehmen. Dann fragt er endlich: “Na, auch aus Deutschland?”, wir antworten: “Ja, wir sind auch aus Deutschland.” Er spricht weiter: “Und das erste Mal hier? Wir kommen ja seit 20 Jahren jedes Jahr an diesen Ort.”
Und bevor wir richtig antworten können, erhalten wir schon ungefragt detaillierte Informationen darüber, wo wir hingehen müssten und was wir besser lassen sollten. Nachdem wir merken, der Vortrag wird nicht so schnell enden, bedanken wir uns höflich und geben zu verstehen, dass wir ja nun auch weiter müssen.
Diese Tipps sind keinesfalls böse gemeint; mit Sicherheit ganz im Gegenteil. Und wir mögen es überall auf der Welt mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, uns auszutauschen und neue Inspiration aus einer Unterhaltung mitzunehmen. Das ist aber eben etwas anderes als in der soeben geschilderten Situation, in der jemand versucht, seine Sicht als den einzig richtigen Weg anzupreisen. Auch wenn es nur nett gemeint ist.
Anekdote II
Anders in folgender Anekdote: Wir sind nach einigen Stunden Fahrt in unserem Wohnmobil im südlich von Portland gelegenen Oregon City auf unserem Campground angekommen. Von da bis nach Portland Downtown sind es mindestens je nach Verkehrslage 30 Minuten mit dem Auto. Mit unserem fast 9 Meter langen Motorhome wollen wir nicht nach Downtown fahren. Wir entscheiden uns für eine Fahrt mit Uber. In San Francisco hatten wir diesen Dienst ein Jahr zuvor schon oft genutzt und gute Erfahrungen gemacht. Wir fanden es angenehm, mit den Fahrern zu plaudern, zum Teil sehr interessanten Lebensgeschichten zu lauschen und beiläufig nützliche Tipps zu erhalten, was wir uns eventuell anschauen könnten.
Unser Fahrer war John, ein Mitglied der US-Luftwaffe. Es war sein erster Tag als Uber-Fahrer, was er wohl machte, weil ihm die Zeit zu lange bis zum nächsten Einsatz wurde, wenn ich mich richtig entsinne. Er hatte sichtlich Freude daran, neue Menschen kennenzulernen, Lebensgeschichten zu erfahren und aus seinem Leben zu berichten. So wurden die 40 Minuten mit ihm Auto sehr kurzweilig. Unter anderem erzählte er uns von Pacific City, einem kleinen Ort am Pazifik unweit von Portland. Ok, unweit in den United States ist etwas anders als in Europa: Es waren ungefähr 150 Kilometer. Und nein, er erzählte uns nicht von diesem Ort. Er schwärmte davon, wie herrlich es dort im Sommer am Strand sei. Er riss uns in seiner Schwärmerei mit. Es war fast Mitte Juli und bestes Wetter. Wir entschieden für uns aufgrund der Unterhaltung unsere ohnehin wenig fixierte Route, die uns zwar weiter nach Osten führen sollte, spontan zu ändern und uns nach Portland erst mal Pacific City anzuschauen.
Der Unterschied
In beiden Fällen haben wir Tipps für unsere Reise erhalten. Was war der Unterschied? Der gravierende Unterschied besteht darin, dass uns der Herr in der ersten Szene von seinem Weg und seiner Sicht der Dinge überzeugen wollte. Belehrend mit erhobenem Zeigefinger versuchte er uns zu sagen, was das beste für uns sei. “Gehen Sie dahin, das ist schön und danach gleich noch dahin, aber bitte nicht dorthin.” Eine Situation, die zumindest für uns wenig motivierend war. In meiner Portland-Anekdote hingegen ist die Konstellation ganz anders, weil niemand versuchte, uns den eigenen Weg oder Idee aufzudrängen. Wir konnten aus freien Stücken entscheiden, ob es für uns eine gute Option ist und nicht.
Warum ich das erzähle: Diese Geschichten lassen sich auch gut auf andere Bereiche des Lebens anwenden. Ich denke, es ist entscheidend, wie ich zu einer Entscheidung komme und ob sie mich dann erfüllt. Frei zu entscheiden, bedeutet nicht dem Plan, den andere Menschen vorgedacht, vorgelebt oder entwickelt haben, blind zu folgen. Das ist zwar bequem, verleitet aber doch zu Passivität und dazu, zum reinen Konsumenten zu werden und weniger der Macher und Gestalter des eigenen Lebens zu sein.
Hier und Jetzt
Gesellschaftlich gesehen, gibt es diesen einen Plan fürs Leben. Im Grunde durchläuft so jeder von uns dieselben Etappen: Schule, Ausbildung, Arbeitsleben, Rente und Tod. Der einzige Unterschied besteht im Wesentlichen darin, welche Ausbildung gemacht wird und wie das Arbeitsleben aussieht, wie viel Geld du anhäufen kannst, um dann das Leben als Rentner in der Annahme zu genießen, Tun und Lassen zu können, was du schon immer wolltest.
Ich glaube, ich muss nicht betonen, dass ich dieses System sehr kritisch sehe. Es führt dazu, dass nur wenig hinterfragt oder infrage gestellt wird, ganz nach dem Motto: Gehe den Weg, nutze den Spielraum, der vorhanden ist und werde innerhalb dieser Grenzen glücklich; oder eben nicht. Ein zweiter Aspekt: Je länger du auf ein Ziel hinarbeitest, desto höher werden die Erwartungen. Werden diese dann nicht erfüllt, wird zwangsläufig die Enttäuschung umso größer.
Die Sache ist, du kannst dein Leben nicht später einmal leben, sondern nur im Hier und Jetzt. Irgendwann wird zu spät sein. Unumkehrbar. Keiner von uns weiß, was morgen passieren wird. Wie viele Vorwände, Ausreden oder Gründe haben wir in unserem Leben schon gefunden - vor allem vor uns selbst-, etwas nicht zu tun. Wir brauchen Ziele, auf die wir drauf hinarbeiten können, die uns jeden Tag aufs Neue motivieren. Nur sollten wir diese Ziele selbst setzen und die Art und Weise frei gestalten und Spaß haben, den gewählten Pfad zu gehen. Gerade der Weg zum Ziel gehört zum Leben und hält jede Menge Überraschungen und schöne Momente parat.
Dies ist eine überarbeitete Version meines Artikels “Der Weg ist das Ziel”, der bereits am 25.1.2021 auf rebel73.com erschien.