Germany First!?
Trumps Wiederbelebung des “America First!” Slogans wurde nicht gutgeheißen. Als noch lächerlicher wurde sein “Make America Great Again!” empfunden. Denn in Zeiten der Globalisierung, in Zeiten komplexer internationaler Liefer- und Produktionsketten sei Trumps Sicht einfach naiv. Sagte man.
Und jetzt? Alles ist plötzlich anders durch den Ukrainekrieg.
Noch fehlt ein Slogan, doch für mich wird schon eine isolationistische Haltung spürbar. Wer dabei “in” sein soll und wer “out”, ist mir noch nicht klar. Aber eine Grenze soll gezogen werden.
Im Kern steht natürlich Deutschland, also “Germany First!” Etwas weiter gefasst ist es dann “Europe First!” Und schließlich “The West First!”
Ja, Deutschland ist nicht mehr, was es mal war: das Land, in dem alles sauber und effizient lief. Nein, das ist vorbei. Das Land ist marode. Nicht nur seine Infrastruktur ist stark renovierungsbedürftig, auch seine Geisteshaltung. Die Corona-Wellen haben die hübschen Fassaden weggespült. Dahinter sind nun Korruption, Denunziantentum, Anspruchshaltung und Moralismus zu sehen. Keine Eigenschaften, die zu einem “großen Deutschland” gereichen. Ein Traum vom “Make Germany Great Again!” ist deshalb verständlich.
Dito Europa und der Westen. Das waren mal Projekte getrieben von guten Ideen. Der zweite Weltkrieg hatte die Menschen aufgerüttelt. Die, die ihn erlebt hatten, waren beseelt davon, eine bessere Welt zu schaffen. Ein ähnliches Ereignis wollten sie sich und ihren Nachkommen ersparen.
Doch was ist daraus geworden? “Culture eats strategy for breakfast”, sagte Peter Drucker.
Nach 70 Jahren zeigt sich, dass die viel fundamentalere menschliche Kultur, die conditio humana, das evolutionäre So-Sein des Menschen stärker ist: der Mensch ist ein Mangelwesen, er nimmt sich heute, was er kriegen kann, weil er nicht weiß, ob es morgen noch etwas gibt, er will mehr und mehr, kurz: er lebt in ständiger Angst und will deshalb zuerst sich, dann seine Liebsten schützen, absichern, bereichern. Deshalb zieht er Grenzen, deshalb bricht er in die Grenzen anderer ein.
Europa ist seit dem zweiten Weltkrieg nicht imperialistisch aufgetreten, könnte man sagen. Doch letztlich ist der Umgang mit Afrika oder auch den asiatischen Staaten immer noch vom Kolonialismus geprägt gewesen: Andere Kontinente sind zum Ausbeuten da. “Europe First!” war also im Grunde immer der Slogan.
Die USA hingegen haben deutlich imperialistisch gehandelt. They wouldn’t take no for an answer wenn es darum ging, ein Land zu ihrer Sicht auf die Welt zu ihrem Vorteil “einzuladen”.
Diese grundlegend nicht nachhaltigen Kulturen haben nun die humanistischeren Strategien nach dem 2. Weltkrieg verschlungen. Auch das ist eine Form von Reset: We’re back at square one beim internationalen Spiel. Die internationale Vernetzung hat nicht zu einer Befriedung geführt eingedenk der gegenseitigen Abhängigkeiten. Denn die Abhängigkeiten wurden nicht einfach im Sinne einer guten Arbeitsteilung genutzt, um sich je auf die eigenen Stärken zu konzentrieren. Nein, sie waren vom Westen gen Süden und Osten ausbeuterisch, da sie nicht auf Augenhöhe ausgerichtet waren; und das galt nicht nur im Außenverhältnis, sondern ebenfalls im Innenverhältnis. Es wurden Abhängigkeiten geschaffen mit dem Zweck, die einen zu befördern auf Kosten der anderen.
Auch innerhalb Deutschlands, Europas und den USA wurde weit(er)hin ausgebeutet. Deshalb ist die Ungleichheit in diesen Regionen so groß. Deshalb wachsen darin die sozialen Spannungen.
Das ist keine plötzliche Entwicklung. Sie ist 30, 40 Jahre alt. Doch da sie schleichend ist, also viele Legislaturperioden überspannt, konnten sich Regierungsgenerationen dumm stellen. Das ist jetzt vorbei — auch wenn man es nicht wahr haben will und umdeutet.
Der Feind kann nur woanders lauern. Putin ist böse, China ist der Dämon. Nur die Afrikaner lässt man noch in Ruhe mit Verteufelungen. Solange dort europäischer Müll verklappt werden kann, solange dort noch europäische Überproduktion die Selbstversorgung untergraben kann, tun die Neger den Job, den ihnen die Massas anweisen. Dazu gehört natürlich, dass sie zuhause bleiben und nicht zu Lande oder zu Wasser in Europa einfallen.
Doch die Welt funktioniert so nicht mehr. Unsere Lebensweise, unsere Produkte vertragen keine Isolation. Deshalb müssen wir uns ernsthaft und respektvoll mit den Sichtweisen und Wünschen in anderen Weltgegenden auseinandersetzen.
Natürlich ist ein Angriffskrieg wie auf die Ukraine verurteilungswürdig. Doch auch der hat eine Geschichte, an der der Westen nicht unschuldig ist. Solange diese Anteile geleugnet werden, wird nichts besser. Den Krieg als Hebel zu benutzen, um mit Macht die Verflechtungen auseinander zu reißen, die weltweit über Jahrzehnte entstanden sind, ist keine Lösung. Darin steckt keine Reflexion, kein Wunsch zu gemeinsamer Verbesserung der Lage. Auch das ist wieder nur eine verzweifelte Anwandlung von imperialistischer Grundhaltung.
Das Gegenteil sollten wir tun. Mir fällt das auch manchmal schwer zu fühlen; doch ich denke, es wäre das Richtige: Wir müssen mit Aktionismus und Kurzschlüssen aufhören. Wir müssen die Trennungen überwinden. Auf Corona-Abstandsmaßnahmen dürfen keine hau-ruck Abstandsmaßnahmen auf internationaler Ebene folgen.
Ich empfinde die Globalisierung auch auf eine gewisse Weise zu weit fortgeschritten. Kiwis aus Neuseeland müssen nicht in Deutschland regelmäßig auf dem Tisch liegen. Das gilt ebenso für französische Kartoffeln in Bulgarien. Mancher Warenverkehr ist ökologisch negativ. Doch um anderen Warenfluss, um andere Arbeitsteilung kommen wir nicht herum.
Es ist insofern naiv anzunehmen, dass Deutschland unabhängig würde, nur weil man auf Solarmodule aus China verzichte. Denn wo kommen die Rohstoffe her? Dass Deutschland, Europa, der Westen sich komplett selbst versorgen könnte, ist illusorisch. Weniger russische Energierohstoffe bedeutet mehr arabische oder venezuelanische oder mehr amerikanische. Die Abhängigkeiten sind überall.
“Make Germany Great Again!” ist ein Schlachtruf, der nicht nur auf Zusammenhalt in Deutschland abzielt, sondern auch auf Trennung und Gegnerschaft zu anderen. Das werden die anderen nicht auf sich sitzen lassen. China ist nicht mehr untertäniger Lieferant; China ist auch nicht mehr braver Konsument.
Die Weltordnung wird in den nächsten Jahren eine massiv andere. Die alten Herrschaftsverhältnisse können nicht überleben. Die Frage ist nur, ob sie im hilflosen Verteidigungskampf alles mit in den Abgrund ziehen — oder ob sie loslassen können, um der Idee einer friedlicheren Welt wirklich eine Chance zu geben.
Splendid isolation ist keine Option, auch wenn ich den Wunsch nachempfinden kann. Respectful cooperation ist die Zukunft, die einzige Zukunft. Ohne mutual respect geht es nicht. “Make the Whole World Finally a Great Place to Live for Everyone!” ist der einzige Slogan, der passt. “Germany First!” taugt zu nichts.