Gute Entscheidung mehr als gutes Ergebnis
Vielleicht ist in Pandemie-Zeiten der Entscheidungsspielraum in gewisser Weise eingeschränkt. Andererseits sind Entscheidungen zu treffen, grundlegendere, welche, die man womöglich gar nicht treffen wollte.
Sollte ich mich von diesem Menschen aus meinem Freundeskreis verabschieden, da er eine für mich unhaltbare Position in Sachen Corona vertritt?
Sollte ich den Job wechseln, weil ich gezwungen werde, wieder ins Büro zu pendeln, nachdem es auch ohne diesen Aufwand monatelang gut mit der Arbeit geklappt hat?
Sollte ich den Job kündigen, weil er mich zu einer Impfung zwingen würde?
Sollte ich von der Stadt aufs Land ziehen, um mich beim nächsten Lockdown nicht so eingesperrt zu fühlen?
Sollte ich mehr Geld zurücklegen für die nächsten Einnahmenflaute durch Zwangsmaßnahmen?
Sollte ich auswandern in ein Land, in dem ich weniger Freiheitseinschränkungen und womöglich sogar weniger Steuerlast ausgesetzt bin?
Sollte ich auf eine Familiengründung verzichten, weil mir diese Welt immer weniger lebensbejahend erscheint?
Diese und andere Fragen stellen sich plötzlich durch die Pandemie. Wie darin entscheiden? Was, wenn sich nach der Entscheidung nicht die Verbesserung der Situation einstellt, die erwünscht war?
Durch die Lektüre des Buches How to Decide von Annie Duke habe ich gelernt, zwei Qualitäten zu unterscheiden:
Entscheidungsqualität
Ergebnisqualität
Wir sind naturgemäß an einer hohen Ergebnisqualität interessiert: nach der Entscheidung soll das Leben besser sein.
Und wir glauben, dass sich eine hohe Ergebnisqualität durch eine hohe Entscheidungsqualität schon einstellen wird.
Doch das ist eine maßlose Überschätzung unserer Wirksamkeit.
Wir glauben, wir haben große Kontrolle über unser Leben und sind deshalb die Meister unserer Ergebnisse. Doch der Zufall spielt immer wieder eine entscheidende Rolle: Pech und Glück wirken massiv auf unsere Leben ein.
Was kann in Wirklichkeit passieren?
Können: Wir können ein gutes Ergebnis erzielen aufgrund einer guten Entscheidung.
Pech: Wir können ein schlechtes Ergebnis erzielen trotz einer guten Entscheidung.
Dummheit: Wir können ein schlechtes Ergebnis erzielen aufgrund einer schlechten Entscheidung.
Glück: Wir können ein gutes Ergebnis erzielen trotz einer schlechten Entscheidung.
Das, was wir anstreben ist Möglichkeit 1. Und wir fürchten Möglichkeit 3.
Dass es aber auch Möglichkeiten 2 und 4 gibt, blenden wir aus.
Annie Duke nennt die Beurteilung der Entscheidungsqualität aufgrund der Ergebnisqualität resulting. Vom Resultat aus gesehen wird rückgeschlossen. Und das sei falsch. Resulting führt zu einer Verzerrung der Beurteilung. Es überschätzt unsere Möglichkeiten der Einflussnahme.
In die Resulting-Falle tappen wir jedoch vor allem, wenn wir Entscheidungen keine großartige eigene Qualität zusprechen. Solange wir uns vor allem fragen, wie ein gutes Ergebnis aussehen soll, vernachlässigen wir die Frage, was eine gute Entscheidung ausmacht. Damit Möglichkeit 1 eintritt, ist das jedoch sehr wichtig zu wissen.
Und sollte ein schlechtes Ergebnis eintreten, dann sollten wir uns doch zumindest keinen Vorwurf machen müssen in Bezug auf die Entscheidungsqualität. Mit Pech können wir leben; dass wir dumm sind, wollen wir ausschließen.
Wer also vor einer Entscheidung steht - Kündigen oder nicht? Auswandern oder nicht? -, sollte sich zuerst überlegen, wie eine gute Entscheidung gefällt werden kann. Anschließend mag das Schicksal seinen Lauf nehmen…
Je größer, grundlegender, weitreichender die Entscheidung, desto wichtiger eine hohe Qualität. Was könnten dafür Kriterien sein?
Vielfalt: Wurden mehrere Optionen mit ihren Pros und Contras gesammelt?
Inkremente: Lassen sich die Optionen abstufen in ihrer Auswirkung auf das Leben, um evtl. schrittweise in eine Veränderung einzusteigen?
Ökocheck: Wurden andere, evtl. betroffene Menschen nach ihrer Einschätzung gefragt?
Erfahrungsberichte: Wurden andere befragt, die ähnliche Entscheidungen schon getroffen haben?
Experimentierpotenzial: Wurde die Möglichkeit einer versuchsweisen Veränderung eruiert?
Reversibilität: Lässt sich eine Entscheidung rückgängig machen?
Simulation: Wurden best- und worst-case Szenarien durchgespielt?
Werte: Welche Option stützt welche persönlichen Werte und Bedürfnisse inwiefern?
Ist diese Kriterienliste vollständig? Nein. In Annie Dukes Buch gibt es weitere. Auch lesenswert in diesem Zusammenhang finde ich Decisive von Chip & Dan Heath.
Dass die Kriterien wasserdicht sind, scheint mir auch nicht so wichtig. Irgendeine Lücke kann man im Rückspiegel immer feststellen. Wichtig ist, sich überhaupt (mehr) Mühe zu geben, Kriterien zu sammeln und für eine Entscheidung mit Leben zu füllen.
Wer sich über seinen Entscheidungsprozess Rechenschaft ablegen kann, trifft schon viel bessere Entscheidungen. Vor allem gibt das schlichte Bemühen um eine Systematik den Entscheidungen mehr Zeit. Sie werden also in jedem Fall überlegter getroffen.
“Aus dem Bauch heraus” zu entscheiden, hat seinen Platz. Vielleicht ist “der Bauch” sogar letztlich bei jeder Entscheidung ausschlaggebend. Denn das unterscheidet ja eine Entscheidung von einer Wahl: ein Rest an Unsicherheit.
Bei einer Wahl ist die richtige Option “berechenbar”; man muss nur die Eigenschaften zusammentragen und vergleichen. Welche Option gewählt werden sollte, ist dann evident: die mit der besten Pro/Contra-Bilanz.
Entscheidungen sind hingegen nicht “berechenbar”. Sie fordern den Menschen mit seinem Willen zur Chance, seiner Abneigung gegenüber Risiko und also seinem ganzen Mut. Bei Entscheidungen braucht es am Ende immer einen leap of faith. Den entscheidet “der Bauch”.
Doch über welchen Graben mit diesem Sprung zu setzen ist… das ist eine Frage der Vorbereitung der Entscheidung. Hohe Entscheidungsqualität soll dazu führen, dass der Graben nicht so breit und nicht so tief ist.
Bei allerbester Vorbereitung jedoch ist nie sicher, was auf der anderen Seite des Grabens wirklich sein wird. Das Ergebnis einer Entscheidung steht nicht fest. Sollte es nicht wie gewünscht ausfallen, bewahrt eine hohe Entscheidungsqualität zumindest vor einem tiefen Sturz in Selbstmitleid oder Schuldzuweisungen.