Demokratie braucht Selbstschutz
Eine freiheitlich demokratische Gesellschaft ohne funktionierende Verteidigung ihrer Werte auch nach innen ist zum Verfall verdammt.
Ohne Schutz bleibt nichts bestehen. Alles vergeht, für das nicht gesorgt wird. Es verschleißt, es erodiert. Das gilt für Unbelebtes wie Berge oder Autos. Das gilt aber auch für Belebtes wie Organismen und Organisationen.
Das Unbelebte kann sich nicht selbst erhalten. Es braucht Pflege, das heißt Fremdschutz. Das ist jedem Autoliebhaber und Häuslebauer klar. Mit einer einmaligen Investition ist es nicht getan. Immer wieder muss zumindest in Wartung investiert werden, um einen Zustand zu erhalten. Geschieht das nicht, nagen Gebrauch und Elemente an den Dingen, bis sie unbrauchbar werden.
Das Belebte zeichnet sich dadurch aus, dass es für sich selbst sorgt. Es betreibt Selbstschutz. Es ist robust und kann Wunden heilen. Es ist sogar antifragil und wird durch Stress noch robuster. Das Immunsystem ist dafür ein zeitgemäßes Beispiel.
Kennzeichen des sich selbst erhaltenden Belebten ist, dass es klar umrissen ist. Als autopoietische Einheit hat es eine Identität, die sich in seinen Grenzen ausdrückt. Es unterscheidet, was zu ihm gehört und zu schützen ist und was nicht zu ihm gehört, was ihm fremd ist. Es gibt ein Innen, dass sich von einem Außen separiert hat. In diesen Grenzen und nur durch diese Grenzen kann im Innenraum Stabilität hergestellt werden, so dass von Kontinuität und (Selbst)Erhalt gesprochen werden kann.
Was für Organismen und Superorganismen gilt, gilt - so denke ich - auch für Organisationen von der Familie über den Verein, das Unternehmen bis zur Gesellschaft.
Wo sich eine Gemeinschaft findet, also eine soziologische Identität entsteht, wird eine Organisation ausgebildet, die diese schützt.
In der Masse gibt es keine Identität. In der Gruppe ist sie im besten Fall von außen temporär gestiftet. Erst eine Gemeinschaft ist von innen angetrieben und strebt nach Selbsterhalt.
In einer Gemeinschaft gibt es kohäsive Kräfte, die ihre Mitglieder beieinander halten.
Durch die Kohäsion entsteht andererseits ganz natürlich eine Distanz zur Masse (und anderen Gemeinschaften) um die Gemeinschaft herum. Früher oder später wird diese Grenze auch bewusst gezogen.
Die Gemeinschaft bildet eine Identität aus. Es entsteht ein Einheitsgefühl, ein Wir-Bewusstsein, dem ein Die gegenübersteht.
Zur Identität gehören Werte und Ziele. Sie sind das Fundament der Selbstführung einer Gemeinschaft. An ihnen richten sich die Entscheidungen und Aktivitäten der Gemeinschaft aus. Zur Kohäsion kann Koordination auf einen wünschenswerten Zustand hin treten.
Im Moment, da eine Gemeinschaft sich ausbildet und Stabilität erlangt, stehen die Kräfte in günstigem Verhältnis. Alles ist gut.
Doch im selben Moment, da eine Struktur entsteht, beginnt auch schon der Zahn der Zeit an ihr zu nagen. Das mag eine Gemeinschaft zunächst nicht spüren, da ihre Mitglieder noch im seligen Taumel der Identitätsbegründung sind. Zu lang sollte diese Realität jedoch nicht ausgeblendet werden. Es gibt kein Naturgesetz, das Gemeinschaften Bestand garantieren würde.
Jedem Anfang mag ein Zauber innewohnen. Mit jedem Anfang ist allerdings auch ein Tod vorausbestimmt. Nichts ist von Bestand.
Wenn Gemeinschaften ein Interesse an langem Bestand haben, tun sie also gut daran, sich möglichst früh um eine Organisation zu bemühen, die den zusichert. Es braucht Werte, Regeln, Rituale, Institutionen, die die Identität definieren und hüten. Es braucht einen unverbrüchlichen Kern, der in den Wechselfällen der Geschichte erkennbar bleibt. Was auch immer passieren mag, ihn gilt es zu schützen. Geschieht das nicht, verliert die Gemeinschaft ihre Identität; ihre Mitglieder zerstreuen sich oder zumindest ist sie nicht mehr dieselbe.
Keine Gemeinschaft steht über dem ehernen Gesetz, dass alles verfällt; und sogar das Leben, das sich gegen die Entropie stemmt, währt nicht ewig.
Davon ist auch nicht die freiheitlich demokratische Gesellschaft Deutschlands ausgenommen. Die Identität, die sie in den 1950er oder auch noch 1970er gehabt haben mag, existiert nicht einfach fort ad infinitum. Sie ist nicht gottgegeben. Niemand kann sich darauf ausruhen, was frühere Generationen definiert und aufgebaut haben.
Auch eine freiheitlich demokratische Gesellschaft steht unter ständiger Verfallsdrohung. Sie muss sich ständig dagegen stemmen. Ohne kontinuierliche Investition in ihre identitätsstiftenden Organe, löst sie sich auf oder morpht zu etwas, das nichts mehr mit dem zu tun hat, was einmal so edel erschien.
Die freiheitlich demokratische Gesellschaft kommt nicht ohne eine ständige Investition in Selbstschutzmaßnahmen aus. Dafür muss natürlich klar sein, was ihren Kern, ihre Identität ausmacht. Wozu sagt sie entschieden Nein? Was ist wirklich unverbrüchlich? In Kraft und Demut gilt es, dafür einzustehen.
Für mich gibt es eine Hierarchie von Werten:
Zu jeder Gemeinschaft gehört innere Einheit. Wenn die Mitglieder aufhören, sich um einander zu kümmern und die anderen in der Gemeinschaft wertzuschätzen, ist der Keim für den Zerfall gelegt. Kräften, die spalten, ist entschieden entgegenzutreten.
Eine freiheitliche Gemeinschaft ist durch Pluralität gekennzeichnet. Ihre Mitglieder sind frei, sich nach Gusto zu entfalten. Das kann natürlich nicht beliebig geschehen, sonst zerfällt die Gemeinschaft in egoistische Individuen. Aber so viel Freiheit wie möglich und so wenig Einschränkung wie nötig sind für mich der Grundwert einer freiheitlichen Gemeinschaft. Wie viel ist möglich und wo sind Begrenzungen nötig? Das kann nur ein kontinuierlicher Dialog feststellen. Zu einem solchen Dialog gehört natürlich die freie Meinungsäußerung.
Freiheitlichkeit stellt nur dort einen Wert dar, wo es überhaupt Vielfalt gibt. Das bedeutet, eine freiheitliche Gemeinschaft muss daran interessiert sein, Vielfalt zu erhalten. Kräften, die Vielfalt reduzieren, ist entgegenzutreten. Vielfalt braucht Pflege! Sie muss nicht nur gefördert werden, sondern sogar gefordert.
Eine demokratisch freiheitliche Gesellschaft muss dafür Sorge tragen, dass Entscheidungen wirklich von ihren Mitgliedern getroffen werden. Je existenzieller und je weitreichender, desto mehr Mitglieder müssen direkt in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Dem Verzicht auf Entscheidungen, der Aufgabe von Selbstverantwortung durch Übertragung von Entscheidungen auf wenige Stellvertreter, die wiederum Entscheidungen auf ein noch kleineres Stellvertretergremium übertragen, legt den Keim für eine Aushebelung der Demokratie. Eine demokratische Gesellschaft muss deshalb Institute und Organe haben, die ihr erlauben, jederzeit die Entscheidungen wieder zu den Mitgliedern zu ziehen. Der Souverän, das Volk, ist nur souverän, wenn es ein Veto einlegen kann. Volksverteter sind Diener; sie unterstehen der Herrschaft des Volkes.
Schließlich braucht eine Gesellschaft eine Grenze. Auch eine so genannt offene Gesellschaft kann sich nicht erlauben, nicht ganz dicht zu sein. Bei aller Meinungsvielfalt braucht es also einen Konsens darüber, was innerhalb der Gesellschaft möglich ist und was nicht, wer dazu gehört und wer nicht, wer sich dazu gesellen darf und wer nicht. Und wo diese Grenzen unter Druck stehen, müssen sie tatsächlich verteidigt werden. Damit meine ich nicht unbedingt den militärischen Verteidigungsfall, sondern vor allem den ideologischen. Wertesystem und Konzept der freiheitlich demokratischen Gesellschaft sind ständig Stressoren von außen und innen ausgesetzt. Denen gilt es zu widerstehen.
Und wo steht in dieser Wertehierarchie die Gesundheit? Zeichnet sich die freiheitlich demokratische Gesellschaft nicht dadurch aus, dass sie jedem Mitglied Wohlstand und Gesundheit zusichert?
Nein.
In “freiheitlich demokratisch” oder “offen” steckt nicht “gesund”. Gesundheit für die Gesellschaftsmitglieder mag entstehen, wenn Freiheit und Demokratie stabil existieren. Gesundheit ist ein Effekt, kein Produkt. Die kontinuierlich zu erbringenden Leistungen sind „nur“ Freiheit und Demokratie.
In einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft heißt es daher: Freiheit mehr als Gesundheit.
Freiheitlich demokratisch bedeutet auch nicht fürsorglich. Das kann es nicht bedeuten, weil bei Übertragung von Sorge vom Einzelnen auf “das System” die Selbstverantwortung, die Selbstsorge und damit die Grundlage für ein Interesse an Freiheit aufgegeben würde.
Die freiheitlich demokratische Gesellschaft muss alles dafür tun, keine Begehrlichkeit nach Fürsorge zu säen oder ihr nachzugeben. Das würde ihrer Gründungsidee widersprechen. So wenig Fürsorge wie möglich, so viel wie nötig.
Selbstverständlich ist am Ende auch eine freiheitlich demokratische Gesellschaft zum Untergang verdammt. Mit etwas Obacht und Mühe kann dieser Tod jedoch hinausgezögert werden. Leider scheint mir derzeit (und auch schon länger) in Deutschland das Gegenteil der Fall zu sein. Es herrscht Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Was soll dem Exportweltmeister, dem Motor der EU schon passieren? Das Erfolgsrezept wird weiter funktionieren! Es muss!
Ich bin da sehr skeptisch. Ich glaube, Deutschland hat schon seine Identität verloren. Sein Gesicht ist gemorpht. Und wird nicht gegengesteuert, wird es zur Fratze.
#politik #gesellschaft #demokratie