Illusion der freien Entscheidung
Ich bin kein nachtragender Typ. Dinge passieren. Niemand ist unfehlbar. In aufrichtiger Reflexion sollte jeder bemerken: “Auch ich nicht.” Manchmal rutschen Worte raus, die man später bereut. Im Affekt, in der Situation aufwallender Emotionen hat sicher jeder schon mal über die Stränge geschlagen und die Äußerung später bedauert. Wahre Größe liegt darin, sich aufrichtig bei der oder den betroffenen Personen zu entschuldigen. Stärke und emotionale Reife wiederum bedeutet, ehrliche Entschuldigungen anzunehmen und nicht nachtragend zu sein. Für mich gehört es jederzeit zum Leben Fehler zu machen und daraus zu lernen. Habe ich mich geirrt, fällt es mir nicht schwer, mir das selbst und auch anderen gegenüber einzugestehen. In jüngeren Jahren fiel mir das zugegebenermaßen manchmal nicht leicht, aber im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass Aufrichtigkeit die Wertschätzung einer Person nicht beeinträchtigt; oft eher im Gegenteil.
Was bringt es also, nachtragend zu sein oder zu lügen, wenn man sich mal geirrt oder falsch gehandelt hat? Nichts! Die Aufrichtigkeit, zu Fehlern oder Irrtümern zu stehen, sollte gesellschaftlich zum Wertesystem gehören, um das Zusammenleben angenehmer zu machen. Niemand sollte als ewig gebrandmarkter Verlierer dastehen, weil er versagt hat, egal ob im privaten oder geschäftlichen Umfeld.
Aber gerade diese Häme bringt - so glaube ich zumindest - Menschen immer wieder dazu, nicht zu sich selbst und ihren Worten und ihrem Handeln zu stehen.
“Man könnte ja nicht gut dastehen vor anderen”. Warum glauben wir, dass wir nur gut dastehen, wenn wir immerfort alles richtig und nie Fehler machen? Ich denke, dies ist ein fataler Trugschluss, der vor allem das Selbstwertgefühl angreift und die Seele unnötig belastet. Es ist etwas, was uns dazu bringt Kraft zu verschwenden, um den Schein zu wahren.
Natürlich wundert mich das nicht weiter, weil wir so erzogen werden. Alles ist auf Schein ausgelegt. Wer teure Marken trägt und ein hochpreisiges Auto fährt, erhält ein höheres Ansehen in der Gesellschaft als derjenige, der das nicht kann oder will. Es bringt Anerkennung, obwohl man selbst quasi nichts getan hat. Andere bewundern Menschen für Äußerlichkeiten und das, was sie besitzen und im wahrsten Sinne des Wortes darstellen, aber nicht für das, wer sie wirklich sind und was sie leisten. In Schule, Ausbildung und Studium gilt derjenige als der Beste, der die Regeln tadellos befolgt und die besten Noten hat. Das bedeutet nichts anderes, als sich unterzuordnen, anstelle frei und selbstständig zu denken, zu entscheiden und zu handeln. Wir werden früh dazu gebracht, eine Rolle zu spielen und diese perfekt ein Leben lang auszufüllen. Mit anderen Worten: Wir werden an einer freien Entfaltung gehindert. Die einen mehr, die anderen weniger. Das System, aber auch die Gesellschaft, verlangt Konformität, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Genährt wird dies zusätzlich noch durch Propaganda. Diesmal meine nicht die Agitation des Staates, sondern die der Konzerne, die häufig das Idealbild des perfekten Menschen und Lebens kreieren, um ihre Produkte zu verkaufen. Sie bringen die meisten von uns dazu, weniger die eigene Vorstellung vom Sein zu gestalten und nach eigenem Willen zu handeln, dafür aber die Vision vom mustergültigen Leben anderer zu leben. Allein die sich stetig wiederholende Unterteilung von Woche (Arbeit) und Wochenende (Freizeit) ist für mich ein Beispiel von Konformität und dem Verlust autark zu entscheiden. Entweder du folgst dem Strom der Masse und orientierst dich an dieser Routine, um beispielsweise mit anderen etwas unternehmen zu können, oder du gestaltest dein Leben tatsächlich frei und der Kreis deiner Bekannten limitiert sich gleichzeitig drastisch.
Wir müssen uns eingestehen, dass die Freiheit, die wir kennen, keine natürliche Freiheit ist, weil sie sich ausschließlich darauf beschränkt, was uns die Gesellschaft und das System an Optionen anbieten. Wir können aus diesen Möglichkeiten mehr oder weniger eigenständig wählen. Eine Auswahl an Optionen zu besitzen, die andere vorgegeben haben, ist aber eben etwas komplett anderes als aus freien Stücken zu entscheiden. Damit wird leider nur die Illusion einer freien Entscheidung erzeugt.