Seit ich denken kann, sind die täglichen Nachrichten davon geprägt, dass sich die Gesellschaft im Kampf gegen irgendjemanden oder irgendetwas befindet. Ein Feindbild wird offenbar gebraucht; etwas, dem die Menschen einer Gesellschaft misstrauen sollten, damit sie von der Regierung beschützt werden können.
Meine Kindheit war geprägt vom Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Deswegen mussten auch schon Kinder während der Schulzeit im 2-Wochentakt mit in die sozialistische Produktion, um in diesem Gefecht zu unterstützen. Diese Auseinandersetzung war allgegenwärtig: in der Tagespresse, im Fernsehen und in der Schule. Alle mussten mitmachen, um den Sozialismus voranzubringen und bald das Endziel Kommunismus zu erreichen. Gesellschaftlicher Konsens wurde vorausgesetzt. Es war ja schließlich eine kollektive Aufgabe, die die Solidarität aller Menschen im Lande und in den sozialistischen Bruderländern erforderte. Solidarität wurde überall gefordert. Veranstaltungen, die dem Wohle aller und der Stärkung des Sozialismus sowie dem Kampf gegen den Kapitalismus dienten, waren in der Regel obligatorisch.
Der Klassenfeind saß westlich und bedrohte das Wohl der Menschen im Sozialismus permanent, zumindest wenn man dem öffentlich geprägten Narrativ der demokratisch gewählten Führung in Berlin und ihren angeschlossenen Leitmedien glauben schenkte.
Mir kam das sehr inszeniert vor, sodass ich das wohl nie wirklich ernst nahm und ernst nehmen konnten. Trotzdem bestimmte es den Alltag. Knappheit und Eintönigkeit waren überall sichtbar. Selbstbestimmung im vordefinierten Rahmen möglich, solange man nicht gegen die solidarischen Regeln des sozialistischen Kollektivs verstieß oder auf die Idee kam, zum Klassenfeind reisen zu wollen, um zu schauen, ob es tatsächlich gefährliche Feinde sind.
Um mein Taschengeld aufzubessern, suchte ich mir in den Schulferien einen Job im nahe gelegenen Sportgerätewerk in Karl-Marx-Stadt. Ich dürfte damals so 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein. Früh am Morgen ging ich zur Arbeit, um gemeinsam mit den Erwachsenen den Kampf gegen den Klassenfeind im sozialistischen Betrieb zu führen. Ich durchlief unterschiedliche Abteilungen, bis ich dann längerfristig im Versand eingesetzt wurde, um die Arbeit im Volkseigenen Betrieb zu stärken. Natürlich befand sich in dieser Abteilung eine übergroße Parole, die die Werktätigen in der DDR huldigte an der Wand. An den Wortlaut kann ich mich leider nicht mehr genau erinnern.
Schnell stellte ich fest, dass der Großteil der hergestellten Produkte mir bis dato nicht bekannte Aufkleber erhielten. Manchmal war es unsere Aufgabe, diese an den Produkten anzubringen. Die Fabrikate aus sozialistischer Produktion bekamen das Siegel “Geprüfte Sicherheit” vom westlichen TÜV. Ich fragte eine Kollegin, was das bedeutet. Sie antwortete kurz: “Na, die sind doch fürn Westen.”
Der sozialistische Vorzeigebetrieb produzierte unter sozialistischen Kampfparolen für den Klassenfeind. Entgegen dem öffentlichen Narrativ wurde der Feind gestärkt. Es ging sogar noch weiter: Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich einen Container mit diversen Produkten für das kapitalistische Ausland beladen durfte. Unter anderem waren auch Sprossenwände aus Holz dabei. Als ich fast fertig war, kam der Versandleiter, um zu prüfen. Er bemerkte, dass eine Sprossenwand qualitativ minderwertig war. Er sagte: “Die muss getauscht werden. Die können wir so nicht in den Westen schicken.” Er entnahm sie, um sie mit einer Makellosen aus einem Container, der das sozialistische Bruderland Kuba als Ziel hatte, zu tauschen.
Meine Erkenntnis war klar, der viel gepriesene Kampf gegen den Klassenfeind war eine Show. Propaganda. In Wirklichkeit war die DDR nur der Verlierer, der am Tropf des Geldes aus dem Westen hing. Die Diskrepanz zwischen Anspruch der DDR-Führung und Realität im Lande war eindeutig zu erkennen.
Wozu brauchte man also diese ganzen Parolen noch? Ich denke, die sind notwendig, um die Macht aufrechtzuhalten; das System am Laufen zu halten, so wie es ist und grundlegende Neuerungen zu stoppen. Denn Veränderungen bedeuten meist, dass die aktuellen Machthaber den Kurs ändern müssen, ihr Gesicht verlieren oder gar die Macht abgegeben müssen. Das gilt für alle Ebenen, egal ob in der Politik, in einem Konzern, alteingesessenen Familienbetrieb oder auch im Freundeskreis oder Familie.
Nachdem die DDR zerfiel, war der Klassenfeind nicht besiegt. Nein, erbrachte den ersehnten Wohlstand, Bananen und die alten Autos über die Grenze, die im Westen keiner mehr wollte. Aber der konsumhungrige Ossis dürstete nach allem, was von “drüben” kam. Die Matrix hatte zugeschlagen.
Ralf hatte es vor Kurzem gut auf den Punkt gebracht: “Worte, die für mich die Matrix u. a. umreißen, sind Leistungsgesellschaft und Konsumgesellschaft.”
In dieser Zeit sah es nicht nach Kampf aus. Es schien bergauf zu gehen: Freiheit und Gestaltungsspielraum. Viel Neues.
Logischerweise hörten die Medien nicht auf, über Konflikte in der Welt zu berichten. Die muss es natürlich geben, nicht dass das Volk zu übermütig wird. Ohne Angst kann das System, wie wir es kennen, nicht existieren. Es ist der Nährboden dafür, damit Menschen in die Matrix eintreten. Es ist die grundlegende Idee vom kleinen, dienenden Untertan, der von der Regierung und ihren Geheimdiensten beschützt wird. Die Angst vor dem Ausschluss aus der Konsumgesellschaft treibt die meisten Montag bis Freitag 9-to-5 ihre Arbeit zu verrichten, um sich dafür etwas leisten zu können. Für das erarbeitete Geld kann man das Leben bestreiten und überleben. Besserverdiener können sich belohnen: durch Konsum. Doch ist der Konsum von Produkten wirklich befriedigend?
Irgendwann begann die Terrorgefahr zu wachsen. Und kurze Zeit später befand sich die westliche Welt in einer neuen Gefahr. Gefährdet durch den Terrorismus. Einschränkungen mussten her. Der Höhepunkt war dann 9/11. Dieser Schlag mitten ins Herz der Weltmacht USA, medial hollywood-like produziert, machte diese Gefahr für alle sichtbar. Überall auf der Welt. Reisebeschränkungen und ein weiterer Eingriff in die Privatsphäre waren die Folge, wenn man Flugdienste in Anspruch nehmen wollte. Die gelten bis heute. Wir haben uns dran gewöhnt, dass wir gescannt werden und nicht mit unserer Wasserflasche durch den Security Check am Flughafen spazieren können.
Diese Sicherheitsbedingungen, um die friedliche westliche Welt vorm bösen Terrorsimus zu schützen, haben sich überall auf der Welt etabliert und sind zum Standard geworden. Funktioniert doch: Feind skizzieren, Angst verbreiten, das Volk einschüchtern und kontrollieren.
Warum erzähle ich das alles?
Wir sollten lernen, dass es keine gute Idee ist, dem öffentlichen Narrativ zu folgen. Propaganda ist wie Werbung. Nur ist der Absender eben kein Unternehmen, welches das eigene Produkt besser darstellt, als es eigentlich ist. Es sind Interessenverbände, die einen starken Staat benötigen, um ihre Interessen durchzusetzen.
Die Propaganda nutzt stets dasselbe Muster. Ein Gegner muss her, der kollektiv bekämpft werden muss. Der Glaube an die Existenz des Feindes genügt bereits, um gepaart mit Schreckensmeldungen und daraus resultierender Angst, die Menschen dazu zu bringen, diesem ständigen Kampf ihr Leben unterzuordnen. Der Feind und die Gefahr müssen nicht wirklich existieren. Eine stetig wiederholte Geschichte davon ist ausreichend.
Es hat immer wieder funktioniert: bei den Nationalsozialisten, in der sozialistischen DDR und bei der weltweiten Terrorgefahr. Und nun abermals: Wir sind im Kampf gegen die imaginäre, unsichtbare Bedrohung durch einen Virus. Kollektiv und solidarisch ordnen wir uns dafür blind und gutgläubig dem erstarkenden Staate unter.
Ja, die Angst! Nicht vor dem, was wirklich Angst machen kann und sollte, sondern vor dem Imaginären. Wenn man Wohlstand daran misst, ob das allgemeine Angstniveau gesunken ist, dann würde ich sagen, dass der Fortschritt verhalten bis rückläufig ist, insb. in den letzten 20 Jahren. Daran ändern iPhone, Ryanair oder Netflix auch nichts.
Angst stabilisiert. Sie wird bewusst geschürt. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern dokumentierte Realität. Ich empfehle zb dies mal zu sehen: The Power of Nightmares, https://youtu.be/Lsh6F6gMch0