Kapitalismus und die Vergiftung unserer Bindungen
Gedanken darüber, warum wir uns selbst in Knechtschaft halten
Kapitalismus macht alles zu Geld. Alles. Nichts ist sicher. Was heute noch nicht verkäuflich ist, ist es morgen.
Kapitalismus ist die totale Monetarisierung.
Auf Englisch kann man das plastisch formulieren, finde ich:
Capitalism replaces bonds with bondage.
Capitalism replaces caring with contracts.
Bonds sind die natürlichen, emotionswurzelnden Bindungen zwischen Menschen. Sie brauchen Zeit, weil sie auf Vertrauen basieren. Für echte Bindungen müssen Menschen sich kennenlernen. In diesem Tanz miteinander sind Menschen frei. Sie machen mit, solange es ihnen Freude bereitet.
Diese Freiheit ist dem Kapitalismus ein Graus. Er will keine unberechenbaren Menschen, denn die könnten sich schon morgen gegen ein Produkt entscheiden und ihr Geld verweigern. Der Kapitalismus favorisiert deshalb Abhängigkeit, auch wenn er aus dem Gedanken der Vielfalt und Freiheit geboren wurde. Nur in Abhängigkeit sind Menschen verlässliche Geldquellen. Ohne Zügel sucht der Kapitalismus also immer neue Wege, Menschen “zu melken”: human farming — oder auch Knechtschaft (bondage) genannt.
Wo Unternehmen es sich erlauben können, weil ihre Angebote alternativlos sind oder ein Wechsel de facto bzw. emotional sehr schwierig ist oder dem Käufer/Nutzer Informationen über Produkte bzw. Produktionsweise fehlen, werden Qualität und Wahlfreiheit auf ein Minimum gesenkt — das nur durch gesetzliche Regulation definiert ist.
Dass Menschen sich das gefallen lassen und sogar einreden, alles sei gut, wurzelt in einem Konzept: dem Vertrag (contract).
Verträge als durch das Recht gestützte Versprechen gestatten es, ohne den Aufwand, eine Bindung herstellen zu müssen, transaktionale Beziehungen einzugehen. Menschen, die sich noch nicht gesehen haben und nie wieder sehen werden, können auf Basis eines Vertrages etwas austauschen, um jeder für sich einen empfundenen Mangel auszugleichen.
Das ist eine ungeheure Erfindung! Sie hat dazu geführt, dass die Zahl der Transaktionen explodieren konnte. Und das hat zu dem Wohlstand geführt, den wir heute genießen — aber auch zu viel Leid. Denn nun müssen Austauschbeziehungen eben nicht mehr persönlich sein. Verträge machen Transaktionen in Anonymität möglich.
Vertragspartner müssen sich nicht um einander kümmern. Vertragspartner müssen einander nicht am Herzen liegen. Sie müssen lediglich den Vertrag einhalten — egal, ob der eine den anderen nett findet oder dessen Werte teilt. Es gilt allein: Pacta sunt servanda.
Damit ist letztlich das Gegenüber als Mensch aus der Beziehung ausgeklammert. Es bleibt ein Platzhalter, der keine spezielle Empathie verdient. Augenfällig ist das, wenn die Vertragspartner Organisationen sind. Sie sind eigene juristische Entitäten — allerdings a-menschliche.
Ohne Verträge kommt es auf die Bindung an, die Menschen zueinander haben, die etwas austauschen wollen. Bindung gibt es nur auf Augenhöhe, d.h. wenn beide einander nicht egal sind als Menschen. Denn erst, wenn ich den Eindruck habe, dass der andere sich zumindest grundlegend um mein Wohlergehen sorg (to care), schenke ich ihm Vertrauen.
Das jedoch braucht eben Zeit und lässt sich nur schwer über eine gewisse Zahl Menschen ausdehnen. Aus dem Grund ist caring dem Kapitalismus zuwider. Er braucht die Geschwindigkeit und Skalierbarkeit von contracts.
Damit hebelt er jedoch das aus, was Menschen zu Menschen macht: die Bindungen, in denen der andere als Individuum sichtbar, spürbar, fühlbar ist.
Gute Bindungen stehen am Anfang unseres Lebens. Ohne gute Bindungen können wir uns nicht zu gesunder Selbstständigkeit entwickeln. Fehlende Bindungen wirken traumatisch; sie machen krank. Gute Bindungen hingegen schützen und heilen.
Doch dieses vielleicht menschlichste Bedürfnis von allen untergräbt der Kapitalismus. Er vergiftet uns mit seinem Versprechen, doch dasselbe und viel mehr bekommen zu können, wenn wir bonds und caring ersetzen durch contracts. Was er uns allerdings verschweigt — oder gar nicht selbst überblickt: diese Bequemlichkeit macht süchtig und führt in die Knechtschaft (bondage).
Zucker oder das Auto kommen mit ähnlichen Versprechen daher: “Mach dir das Leben jetzt leicht. Genuss sofort und Bequemlichkeit sind möglich. Ohne Reue.” Und bis zu einem gewissen Grad sind Zuckergenuss und individuelle Mobilität auch kein Problem. Doch es gibt eine Grenze. Jenseits derer liegen Gesundheitsverlust und Abhängigkeit.
Bei LinkedIn habe ich gerade dies zur Übernahme der Credit Suisse Bank gelesen:
Eine toxische Unternehmenskultur. Eine Organisation, welche ihre Mitarbeitende auf Resultate reduziert und ein Umfeld von KPIs, MbOs und OKRs schafft, muss sich nicht wundern, wenn sie am Ende Ellbogenmentalität und kurzfristige Optimierung erntet. Wenn Menschen auf ihren Output reduziert werden, verlieren sie das Gefühl für das Miteinander und gehen unkalkulierbare Risiken ein.
Es ist für mich ein Beleg dafür, was passiert, wenn contracts wichtiger werden als care, wenn also die Menschen aus Beziehungen verschwinden. Denn nichts anderes ist eine Reduktion auf “KPIs, MbOs und OKRs”. All dies sind Verträge, die erfüllt werden wollen — und doch nur dazu führen, dass Angestellte sich selbst knechten und dabei die Rücksicht auf andere — Kollegen, Kunden, Umwelt — verlieren.
Verträge und daraus resultierende Knechtschaft sind überall und mehr oder weniger subtil. Wir erkennen ihr Wirken kaum mehr. Wir können uns womöglich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Doch sie sind nur eine Erfindung.
Like everyone else, you were born into bondage, born into a prison that you can not smell or taste or touch.
Verträge sind nützlich. Ich möchte auf sie auch nicht verzichten. Doch sie sind eben nur Werkzeuge, über die wir Bindungen und Empathie nicht vergessen dürfen. Tun wir das, tun alle das, finden wir uns ansonsten in einem selbst geschaffenen Gefängnis wieder, das schwerer und schwerer zu erkennen ist.
Wo ist das Problem, wenn die Knechtschaft nicht mehr stört bzw. zu stören scheint? Ich denke, dass sie die persönliche Gesundheit belastet, weil sie widernatürlich ist. Sie stresst. Sie lässt die Laune in den Keller gehen mit all dem, was darauf folgt. Und gesellschaftlich reduziert sie die Überlebensfähigkeit, weil in Knechtschaft Reaktionen auf Veränderungen langsamer und unpassender sein müssen.
Kapitalismus hat Probleme gelöst. Er hat das Leben vieler verbessert. Einerseits. Andererseits hat er aber auch unermessliches Leid erzeugt. Ich denke, es ist Zeit, dass der Kapitalismus nicht aufgegeben, aber eingehegt wird. Damit meine ich allerdings hier weniger noch mehr Regulation, als vielmehr eine individuelle Neubesinnung auf grundlegende menschliche Werte. Jeder kann die vom Kapitalismus geschaffene Plattform in menschlicherer Weise nutzen.
Im Manifest-Stil könnte das lauten:
Care over contracts
PS: Eine Leseempfehlung in diesem Zusammenhang. Der Autor entwickelt überzeugend, wie misslungene Bindungen und andere Traumata gravierende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben.