Keine Freiheit in Abhängigkeit
Es ist so einfach: Wer abhängig ist, ist unfrei.
Das ist jedem sonnenklar, der an Drogenabhängige oder Spielsüchtige denkt. Doch Abhängigkeit ist nicht immer so offensichtlich weil pathologisch oder gar kriminell.
Abhängig ist, wer “nicht ohne kann”. Das beginnt selbstverständlich mit den Grundbedürfnissen: Wir sind alle abhängig von Atemluft, Wärme, Flüssigkeit, Nahrung und auch Beziehungen zu anderen Menschen. Wir sind selbstverständlich nicht frei, uns diesen beliebig zu entziehen. Das können wir nach Übungsgrad nur unterschiedlich kurzzeitig. Außergewöhnliche Menschen, d.h. nur wenige schaffen es, länger darauf zu verzichten — z.B. Apnoetaucher oder Mönche —, die “gewöhnlichen Sterblichen” haben demgegenüber nur sehr geringe Freiheitsgrade. Sie zu überschreiten kann Gesundheit oder gar das Leben kosten.
Aber weil diese Abhängigkeiten so allgegenwärtig und natürlich sind, empfinden wir sie kaum als einschränkend. Zu Bewusstsein kommen sie uns meistens nur in seltenen Notsituationen.
Doch jenseits dieser unvermeidlichen Abhängigkeiten gibt es vielerlei erworbene, künstliche, im Grunde unnötige und deshalb echt freiheitsberaubende. Wer nicht ohne den morgendlichen Kaffee kann, ist abhängig. Wer am Wochenende ins Fußballstadion muss, ist abhängig. Wer nicht ohne einen laufenden Fernseher einschlafen kann, ist abhängig. Wer nicht ohne einen Arbeitgeber kann, ist abhängig. Wer nicht ohne das Auto kann, ist abhängig. Wer nicht ohne einen samstäglichen Shopping-Bummel kann, ist abhängig. Wer nicht ohne Urlaub kann, ist abhängig. Wer nicht ohne Hartz IV kann, ist abhängig. Wer nicht ohne Medikamente kann, ist abhängig. Und so weiter und so fort ad nauseam. Abhängigkeiten sind allüberall. Kleine und große, spürbare und versteckte.
Solange die Welt stabil ist, machen diese Abhängigkeiten auch kein Problem; allemal, wenn sie freiwillig eingegangen wurden. Der Arbeitsplatz ist sicher? Dann liegt es doch auch nahe, sich darauf zu verlassen und z.B. eine Hypothek für das Traumhaus aufzunehmen. Allerdings: Damit ist die Sicherheit in eine Abhängigkeit umgemünzt worden.
In Stabilität sehen viele Abhängigkeiten zunächst nicht wie solche aus. Vielmehr erscheinen sie als Zeichen von Freiheit. “Das habe ich mir verdient…”, “Das gönne ich mir jetzt…” sind stolze Äußerungen beim Übergang von Freiheit in Abhängigkeit. Denn dass Abhängigkeiten eingegangen werden, ist in dem Moment nicht immer klar.
Die Stabilität einer Situation wird überschätzt — wie bei der Arbeitsplatzsicherheit —, eine Notwendigkeit für das weitere Wohlbefinden, die sich womöglich erst durch wiederholten Gebrauch entwickelt, wird unterschätzt — wie beim Kaffee. Und so schnappt die Falle zu. Die Freiheit ist verloren.
Wenn ich Menschen darüber berichte, wie leicht es ist, als Deutscher zumindest in ein anderes EU-Land einzuwandern, ernte ich zuerst erstaunen. Das weicht dann oft einer gewissen freudigen Erregung, wenn realisiert wird, was sich da alles für Möglichkeiten auftun: Leben, wo andere Urlaub machen? Wer würde sich das nicht wünschen?
Doch dann, wenn es konkreter werden muss, um diese Chance auch wirklich zu nutzen, überkommt die eben noch Träumenden eine Ernüchterung, manchmal auch Frustration, gar Niedergeschlagenheit. Das geschieht, wenn sie realisieren, in welchen Abhängigkeiten sie verstrickt sind.
Beim Drehen des täglichen Hamsterrades spüren sie diese Abhängigkeiten kaum. Ihre Unfreiheit ist ihnen wenig bewusst — und wenn doch einmal, dann wird sie reflexhaft rationalisiert (“Das geht auch nicht anders.”) oder verdrängt (“Ich gönn’ mir jetzt noch etwas…”).
Es ist ja auch schwer zu ertragen, wenn man einsehen muss, wie sehr man sich selbst das Leben eingeschnürt hat. Die Politik kann zwar auch die verbliebenen Freiheiten noch weiter beschränken, wie vielfach in den Corona-Jahren geschehen. Vor allem ist die Freiheitsberaubung jedoch ein Ergebnis eigener Entscheidungen im Rahmen von Suggestionen aller Art. Was Familie, Freunde, Kollegen, Promis sagen und vorleben, schlägt eine Schneise durch den Dschungel der real noch existierenden Optionen, der allzu gern gefolgt wird. Wie die anderen leben, wie die Vorfahren gelebt haben, wie das Leben in Schule, Ausbildung, Medien erklärt ist… so soll es dann auch gelebt werden. Wer würde der “Weisheit” der Vielen nicht trauen? Wollen denn nicht alle das Beste für die anderen?
Aber es hilft nichts: Am Ende sind die Abhängigkeiten eben doch selbst entschieden. Die Freiheit ist selbst beschnitten. Dann ist es oft zu spät. Denn wenn die Stabilität sich auflöst, die Unsicherheiten wachsen, der Boden unter dem Leben schwankt… dann blickt, wer die Augen erschrocken aufreißt, durch die Gitterstäbe eines selbst errichteten Käfigs.
Es gibt keine Freiheit in Abhängigkeit.
Deshalb sollte der, der im rechten Moment frei sei sein will, stets darauf achten, welche Abhängigkeiten er eingeht. Vorsicht ist angezeigt! Bewusstsein ist nötig!