Keine Größe sichtbar, nirgends
Die Zeit der wirklich großen Politiker ist vorbei. Das macht mir diese Definition von “great man or woman” klar:
Es kann keine großen Politiker mehr geben, weil das Selbstverständlichste im Leben, das Leiden — existenzielles Leiden — in den Leben der Politiker und solcher, die es werden wollen, keine Rolle mehr spielt. Sie wachsen in einer Wohlstandsblase auf; sie leben isoliert von der Realität 90% der Menschen, für die sie Politik machen (wollen); sie müssen sich um handfeste Wirk-lichkeit von Physik über knappe Kasse für das Nötigste bis Beziehung mit Kollegen in abhängiger Beschäftigung keine Gedanken machen. Wirk-lichkeit hat für sie nur etwas mit Wirkung auf ihre Karriere zu tun.
Außerdem ist existenzielles Leiden zu einer Ungerechtigkeit erklärt worden. Niemand darf mehr leiden; Nachteile darf es nicht mehr geben. Jedenfalls offiziell nicht mehr. Ein Gefühl der Kränkung, Zurücksetzung oder auch nur Unsicherheit darf niemandem mehr zugemutet werden: safe space everywhere ist die Losung. Es fehlt nur noch eine trigger warning für das Leben am Ende des Geburtskanals.
Großes ist von den Politikern heute nicht mehr zu erwarten — mit Ausnahme großer Katastrophen. Großes, das mit einem Nein! zum Überkommenen, zum Reflex der Masse und den Einflüsterungen der Lobbyisten beginnen müsste, führt zwangsläufig zu Leiden und Unsicherheit, was das Fortkommen in der Politikraumstation angeht. Das will niemand aushalten. Das kann auch niemand mehr aushalten. Denn vom Leben geschmiedet ist die Politikergeneration nicht.
Dass Politiker von sich selbst absehen könnten, um für die ihnen Anvertrauten das Beste zu entwickeln, dass sie ihr Ich hinter sich lassen könnten gepolstert durch Diäten, das kann ich nicht erkennen. Sie haben die analoge “Schule des Lebens” leider nur mit “ausreichend” abgeschlossen.
Karl May fällt mir dazu ein, der krass bildhaft beschrieben hat, was zu Größe, zu einem klaren Geist führt:
Die Politiker — wie auch ihre Wähler — sind fragil. Deshalb muss alles abgepolstert werden. Antifragil zu sein, d.h. von Konflikten und Kollisionen profitierend, ist keine Tugend.
Und so kann die Grundstimmung in Politik und Gesellschaft nur Angst sein. Denn wer nicht erfahren hat, dass Leiden überlebt werden kann und sogar stärkt, der muss zwanghaft jedes Leiden vermeiden.
Dass Habeck und andere etwas faseln von “Gürtel enger schnallen”, ist kein Widerspruch zu dieser Diagnose. Sie persönlich betrifft diese Prognose ja nicht. Zum kleinen Politiker gehört, dass er kein skin in the game hat.
Was bleibt? Wenn wieder echte Größen Einzug in die Politik halten sollen, muss dafür die Grundlage in der Wählerschaft gelegt werden. Jeder Einzelne ist aufgerufen, die Kriterien für Größe wieder zuzulassen. Das bedeutet, raus aus der Angst, rein ins Risiko, zu dem immer auch Chance gehört. Es beginnt bei den Kindern, die Sand und Katzenhaaren und Gluten ausgesetzt werden können, ohne zu sterben, und geht bis hin zur Selbstständigkeit statt Vollkaskoanstellung.
Mehr wagen — mehr gewinnen! Freiheit wollen, Freiheit aushalten.
Vielleicht müssen dann Politiker auch gar nicht mehr so groß sein, wenn alle Wähler an Größe gewinnen.