Kollektiver Kontrollwahn
Das Ich ist die Instanz in jedem Menschen, die die Kontrolle bewahren will. Es ist ein Kontrollfreak. Erfolge rechnet es sich gern zu, Misserfolge erleidet es. Bekommt das Ich nicht, was es will, dann ist es frustriert, gekränkt, wütend.
Die Grundvorstellung des Ichs ist, dass es alles unter Kontrolle haben kann und sollte. Kontrollverlust und Ohnmacht sind ihm ein Graus.
Zu seinem Wohlbefinden kann das Ich nichts geschehen lassen, sondern muss ein gewünschtes Ergebnis kontrolliert herstellen. Ihm fehlt jedes Vertrauen “in das Universum”, also in Prozesse oder Instanzen, die es nicht kontrollieren kann. Das Ich muss sehen, wissen, steuern.
Die spirituellen Traditonen aller Kulturen haben das Ich allerdings nicht als Lösung, sondern als Problem gesehen. Ein glückliches Leben winkt nur dem, der bereit und fähig ist, sein Ich zu überwinden. Wer ernsthaft betet oder meditiert, versucht, sich vom Ich zu befreien oder zumindest, seinen Einfluss zu reduzieren.
Eine “Ich-Funktion” mag ja nützlich sein in gewissen Situationen - sie hat sich evolutionär herausgebildet und erfüllt deshalb einen Zweck -, doch wenn die Verhältnisse nicht passen, dann muss sie zurückgefahren werden. Das kostet Aufwand, weil das Ich - wie mir scheint - unersättlich ist.
Wie bei Zucker gibt es keine natürliche Sättigung. Solange dem Körper Zucker angeboten wird, greift er zu. Zucker ist ein Lieferant von viel Energie, der früher selten war. Die Evolution hat also dafür gesorgt, dass das Verlangen dafür vorhanden und unbegrenzt ist. Eine Begrenzung musste nicht “eingebaut” werden in Körper, weil es schlicht nur sehr begrenzt Zucker gab.
Das scheint mir beim Ich genauso zu sein. Das ich reißt Kontrolle an sich, wo es nur kann. Solange Kontrolle nur selten möglich war, hat es Sinn gemacht, jede Gelegenheit zu nutzen. Ein automatischer Kontrollstopp musste nicht eingebaut werden in den Geist, weil Kontrollmöglichkeiten schlicht so begrenzt waren.
Heute scheint das anders. Technologien haben schrittweise das Kontrollpotenzial des Menschen ausgeweitet. Das Ich kann sich also ausdehnen - und erfährt kein Stopp. Das führt zu Leiden.
Mir scheint nun, dass der Sozialismus eine kollektive Ich-Funktion ist. Der Sozialismus ist die Ideologie, bei der es um Kontrolle geht. Das Glück der Menschen in Gesellschaften muss grenzenlos sein, wenn endlich allen alles in gleicher Weise zusteht und in stets perfekter Menge zur Verfügung steht. Dafür muss der einzelne Mensch nur sein individuelles Wollen aufgeben; das Kollektiv ist wichtiger. Und das Kollektiv agiert so, wie es die Ratio gebietet. Wenn erstmal in der Gesellschaft die besten Köpfe an der richtigen Position sind, dann können sie alles zu Wohle der Vielen planen und steuern.
Die, die im Sozialismus herrschen, unterliegen damit einem Kontrollwahn wie das Ich des Einzelnen. Sie können nicht darauf vertrauen, dass gute Verhältnisse emergieren aus einem komplexen Zusammenspiel von vielen. Das ist es aber, wofür Marktwirtschaft und auch noch Kapitalismus stehen.
Die egoistische Ideologie im eigentlichen Sinne ist mithin nicht der Kapitalismus, sondern der Sozialismus. Im Sozialismus reißt das kollektive Ego verkörpert durch die herrschenden Wenigen die Kontrolle an sich. Ohne Kontrolle kein Sozialismus.
Im Kapitalismus mögen die vielen Einzelnen an sich denken und auch egoistisch sein, doch auf die Gesellschaft gesehen existiert kein Ich. Die kapitalistische Ordnung ist wörtlich selbst-los.
Mit dem Sozialismus versuchen Gesellschaften immer wieder, ein Ich auszubilden. Dass das funktioniert, zeigt die Geschichte bisher nicht. Das kollektive Ich hat immer zu unermesslichem Leid geführt.
Mir scheint also, Gesellschaften sollten von den spirituellen Traditionen etwas lernen: das Glück ist flüchtig, solange man noch auf ein Ich wettet.
Und umgekehrt können wir Einzelne etwas von den gescheiterten sozialistischen ich-Versuchen lernen; wir können hier als Teile beobachten, wie das Ganze mit seinem Ich scheitert. Daraus dürfen wir ableiten, dass auch uns selbst ein Ich nicht so gut tut, wie wir meinen. Wenn die Gesellschaft besser fährt ohne Ich, also ohne Kontrollwahn, dann wir Einzelnen ebenfalls.
Der Sozialismus macht uns vor, dass Misstrauen und Kontrolle nicht funktionieren. Wir geben uns besser einem Vertrauen “ans Universum” (oder das Unbewusste) anheim. Mehr Intuition walten lassen, mehr hinhorchen, mehr annehmen, mehr Geduld und weniger Ziele und Deadlines. Das scheint mir ein Rezept für mehr Zufriedenheit. Ein Fünfjahresplan funktioniert nicht im Sozialismus und auch nicht persönlich.
#gesellschaft #psychologie #spiritualität