Kontaktschuld hebelt Demokratie aus
Ist Deutschland ein Land, in dem jeder frei seine Meinung äußern darf? Ich denke, schon.
Nur nützt das im Zweifelsfall nichts.
Jenseits platter Unversehrtheit bei Meinungsfreiheit braucht es mehr, damit sie ihren Zweck erfüllen kann. Der ist: Einer Gesellschaft mehr Optionen für die Reaktion auf eine sich verändernde Welt zu geben. Optionen, die auf dem Tisch sind, können diskutiert werden, um dann die mit dem größten Potenzial an Erfolgsaussicht und Unterstützung zu wählen.
Meinungsfreiheit braucht über Vertrauen in Unversehrtheit hinaus:
Öffentlichkeit und
Sachlichkeit
Beides muss gegeben sein, um den Zweck zu erfüllen. Und beides ist gerade seit 2020 unter die Räder gekommen, ja, geradezu systematisch zerstört worden.
Öffentlichkeit in Form durchaus meinungsverschiedener Leitmedien ist verschwunden. Formal getrennte Medien wurden (oder haben sich) gleichgeschaltet. Es gab damit keine Plattform mehr, auf der andere Meinungen als die einzig wohlgefällige Meinung sich einem interessierten Publikum hätten präsentieren können.
Entweder sind anders Meinende nicht zu den Medien zugelassen worden; oder die Medien haben schon zugelassene Meinungsträger entfernt. Staatliche und private Medien haben sich dabei nichts genommen.
Als Reaktion darauf sind alternative Medien gewachsen. Mit ihnen konnten Meinungsträger wieder Öffentlichkeit erreichen. Allerdings nur unter Vorbehalt. Denn prinzipielle Öffentlichkeit allein reicht nicht für die Meinungsvielfalt. Auf einem Bein lässt sich nicht stehen.
Das zweite Bein, die Sachlichkeit, war nämlich mit der Öffentlichkeit ebenfalls verschwunden. Auch wenn oberflächlich stets das Faktum, das von der Wissenschaft generierte, angerufen wurde, ging es den Leitmedien nicht um Fakten. Das konnte es nie und kann es auch heute nicht, denn Fakten verkaufen sich nicht. Fakten brauchen als Interessenten einen Denker, einen Abwägenden, sogar einen Skeptiker. Der jedoch ist — dem Bildungssystem sei Dank! — nur in kleiner Zahl vorhanden. Denken strengt an; besser lebt’s sich ohne. Deshalb regiert im wahrsten Sinn des Wortes die Emotion.
Das als faktisch Dargestellte im Leitmedium ist ein Vehikel für einen Appell an Emotionen, um Verhalten zu bewirken. Denn E-motion-en bewegen; das ist ihre Funktion. Das gewünschte Verhalten wurde und wird von der Regierung nach unten durchgereicht. Anders darf es in Zeiten der Krise, gar der multiplen Krisen nicht laufen. Denn sonst besteht die Gefahr, das bald nichts mehr läuft, weil alle nur durcheinander laufen.
Außerdem verkaufen sich außer in Fachzeitschriften keine Fakten. Sex sells ist eine alte Weisheit. Allgemeiner formuliert: emotions sell. Vor allem aufregende Emotionen.
Weil es nun ohnehin um Emotionen ging und geht, ist Sachlichkeit kein Wert gewesen. Und wo die Sachlichkeit aus dem Fenster ist, bleibt das Persönliche zurück. Als probates Mittel nach Ausschluss von der Öffentlichkeit und als Reaktion auf alternative Öffentlichkeit wurde deshalb der persönliche Angriff kultiviert. “Du Idiot” oder Ähnliches als Beleidigung verbot sich allerdings; deshalb verlegte man sich auf die Kontaktschuld.
Wer ein bedenkenswertes Argument hatte und auch noch persönlich integer war, musste trotzdem keiner Aufmerksamkeit gewürdigt werden, wenn, ja, wenn Argument und Integrität Anklang “im falschen Lager” gefunden hatten. Passiver oder selbst harmloser Kontakt mit “Elementen”, die als “staatsgefährlich” ausgeschrieben wurden, hat jeden Meinungsträger sofort diskreditiert. Und tut das weiterhin, denn die Kontaktschuld als Waffe ist nicht wieder im Halfter verschwunden; vielleicht wird sie dorthin auch nie wieder gesteckt werden.
Natürlich darf jeder eine Meinung äußern — nur darf die eben nicht in irgendwie gearteter Weise von denen, die offizielle Gegner sind — AfD, Rechte, Querdenker, Putinversteher — geteilt werden. Dann ist Schluss. Dann müssen sich alle Ohren schließen, wenn schon der Mund nicht verboten werden darf.
Auf diese Weise ist das platte Konzept Kontaktschuld ein Hebel, mit dem die Demokratie aus den Angeln gehoben wird. Die formal existierende Meinungsfreiheit wird auf dem letzten Meter, wenn sie sogar die abgewandten Leitmedien überwunden hat, mit der Kontaktschuld zu Fall gebracht. Das Lebensblut der Demokratie, die unterschiedlichen Sichtweisen, versickert damit endgültig. Wo keine widerstreitenden Sichtweisen, da gibt es auch nichts mit Mehrheitsbeschluss zu entscheiden; alles ist ja schon klar. Demokratie braucht es nicht.
Ja, manche Meinung ist schwer zu verstehen. Noch schwerer zu ertragen sind manche Formen der Meinungsäußerung. Doch wenn Demokratie eine Voraussetzung hat, dann ist es die Kraft, das auszuhalten, zuzulassen, gar zu fördern.
Es wird so viel über Diversität schwadroniert. Da sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Diversität an Meinungen ganz oben auf der Agenda aller Interessenparteien steht. Aller und immer. Die Wahrnehmungsorgane für eine Reduktion der Meinungsdiversität im öffentlichen Raum müssen sehr sensibel sein, um zügig auf eventuelle Reduktion zu reagieren.
Ausschluss von der Öffentlichkeit oder Kontaktschuld sind keine Optionen in einer Demokratie. Oder anders herum: Wo ausgeschlossen wird, wo Kontaktschuld grassiert, da ist die Demokratie abwesend. Wer sich in seiner Verzweiflung dieser Mittel bedient, lässt den Vampir ins Haus, der der Demokratie das Leben aussaugt.