Kurvendiskussion I - Repräsentative Demokratie
Die Repräsentative Demokratie lebt von der Angst. Wie kann das sein? Die Ursache liegt in der auch in ihr immer noch bzw. definitionsgemäß abgespaltenen Herrschaft.
Das Wahlvolk soll zwar der Souverän sein und nur aus rein praktischen Gründen Stellvertreter für die Herrschaft wählen. Denn wer könnte sich als normaler Bürger schon die ganze Zeit mit all den Details der Regierung eines Staates auseinandersetzen? Nein, dazu braucht es Fokus und deshalb Spezialisten. Die sind gutwillige und verantwortungsvolle Abgesandte und werden schon alles zum Besten richten — im Rahmen der vielfältigen Kräfte in der politischen Arena.
Oder so ähnlich lautet das Narrativ.
Doch die Realität sieht anders aus. Muss anders aussehen. Früher oder später. Denn wer in der politischen Hierarchie von der Ortsgruppe durch das Parteiensystem bis an die Spitze kommen möchte — um dort natürlich noch mehr Gutes für mehr Menschen zu bewirken —, der braucht sehr spezielle Qualitäten, die rein gar nichts mit der Sache zu tun haben, für die er ursprünglich angetreten ist. Die real existierende Demokratie mit ihrem Parteiensystem korrumpiert. Und wenn nicht jeden, dann doch viele. Natürlich in einer Weise, dass der Einzelne sich für ein Opfer hält oder machtlos oder einen geschickten Taktierer für die immer noch gute Sache. Rationalisierung/Intellektualisierung ist an der Tagesordnung.
Eine eigene, ständig wachsende Organisation als Regierung kann nicht anders, als zunehmend abzuheben. In einem großen Staat entfremdet sie sich ganz natürlich über die Zeit vom Wahlvolk, vom “Mann auf der Staße”, von Otto Normalbürger.
Als deutlich sichtbare Spitze wird sie einfach das Ziel aller möglicher Kräfte, die etwas von ihr wollen. Gegen die muss sie sich einerseits wehren und entwickelt daher Korpsgeist. Andererseits will sie von ihnen profitieren. Korruption (oder auch nur Vorteilsnahme durch Provisionen) während des Amtes oder im Nachhinein sind einfach zu erwarten. Umso mehr, je länger Politiker Ämter innehaben, sich vernetzen und damit Zugang zu Entscheidern für Externe bieten.
Das ist für mich keine Verschwörung, das liegt in der Natur der Struktur. Die Trennung von Herrschaft vom Souverän qua Wahl — Klingt das nicht schon paradox? — kann nur dazu führen, dass die Herrschaft sich versucht selbst zu erhalten, zu stabilisieren und zu wachsen. Wahlen im Abstand vieler Jahre, sind dagegen nicht wirklich eine kompensierende Maßnahme, wenn sie jahrzehntelange Politikerkarrieren ermöglichen.
Und so stellt sich die Frage: Wie stabilisiert sich Herrschaft? Das ewig probate Mittel ist Angst. Sie erhält oder schürt Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung mit der Suggestion, dass nur die Regierung die Situation entschärfen kann.
Herrschaft tut deshalb alles, um Angst im Souverän zu regeln. Denn unter Angst verliert der Souverän seine Souveränität. Er regrediert wie jedes Individuum. Er macht sich abhängig.
Der Angstregler kann mithilfe der Medien und der Werbung verschoben werden; dabei muss keine Rücksicht auf Fakten oder reale Beweggründe genommen werden. Wichtig ist lediglich, ihn in einem für die gewählte Herrschaft vorteilhaften Band zu halten:
Angst ist das, was in das Wahlvolk induziert werden muss, um stabile Herrschaft zu erhalten. Denn über Angst lässt sich ein Resultat herstellen: Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit.
Das Bild zeigt den Zusammenhang zwischen beidem, wie ich ihn verstehe:
Ist die Angst/Unsicherheit in der Bevölkerung gering, bekommen die Individuum Lust, sich zu entfalten. Alles mögliche kann passieren. Sie schließen sich zu ganz unterschiedlichen Interessengruppen zusammen, die andere Ideen als die Regierung entwickeln; sie fühlen sich nicht mehr dem Staat verpflichtet, der für sie quasi unsichtbar wird; sie empfinden sich unabhängig von ihm; sie verlieren das Interesse an der Politik, an den Herrschenden, die es dann schwerer haben, ihre Herrschaft gegen Rivalen aufrecht zu erhalten, die sich aus den unterschiedlichen Interessengruppen herausschälen.
Ist die Angst/Unsicherheit in der Bevölkerung hingegen hoch, verzweifeln die Individuen. Sie fühlen sich vom Staat verraten, losgelöst und in die Unabhängigkeit geworfen; er sorgt für sie nicht mehr oder nur ungenügend. Das erzeugt wachsenden Widerstand mit wachsender Angst.
Repräsentative Demokratie, in der Herrschaft stabil sein soll, ist mithin nicht daran interessiert, die Angst beliebig zu reduzieren. Nein, eine angstfreie Gesellschaft kann nicht ihr Ziel sein — denn die würde ihre Grundlage untergraben. Eine wachsende Individualisierung, in der die Einzelnen ganz sicher und unabhängig vom Staat fühlen, ist eine Gefahr.
Umgekehrt stellt zu große Angst ebenfalls eine Gefahr dar. Ab einem gewissen Schwellenwert kann es zu Rebellionen kommen, die die Herrschaft stürzen wollen. Solange die Bürger noch Dampf in Demos ablassen, ist alles gut. Wenn sie aber Barrikaden errichten und mit Mistgabeln auf die Herrschaftszentralen losgehen oder umgekehrt in Generalstreiks passiv werden… dann hört der demokratische Spaß auf.
Nach dem Fall der Mauer schien die Welt eine bessere zu werden. Endlich war der kalte Krieg vorbei. Eine Angst, die latent immer gedrückt hatte, verschwand. Für eine Weile. Das Vertrauen in den Staat konnte wieder wachsen; man durfte sich mehr Individualismus trauen. Das Internet schien dazu perfekt zu passen als Plattform für alle möglichen Freiheiten.
Das war bedrohlich für die Repräsentativen Demokratien. Sie mussten deshalb einen Weg finden, die Angst wieder anzuheizen. Das geschah in der Folge von 9/11 massiv:
Terrorismus
Grippekrisen
Migrationskrise
Klimakrise
Corona-Krise
Ukraine-Krise
Energiekrise
Die Angstvirtuosen haben den Regler — auch mithilfe des zunächst gefährlichen Internet — fest in den Griff genommen. Noch steht die Angst im stabilisierenden Band der real existierenden Repräsentativen Demokratie. Doch mir scheint, die Herrschaft spielt mit dem Feuer. Wenn sie unvorsichtig ist, rutscht ihr der Regler nach rechts aus dem Band heraus… und es kann zu einer massiven Ablösung des Wahlvolks kommen. Es droht die Gefahr einer gewaltsamen Beendigung der aktuellen Herrschaft.
Das darf natürlich nicht geschehen. Deshalb braucht es repressive Maßnahmen. Vereinzelung der Menschen, Ausgrenzung, Kommunikationsabbruch, Strafandrohung: das sind die Mittel die zu Gebote stehen und auch eingesetzt werden. Offene Gewalt würde die Angst drastisch nach rechts springen und die Situation schnell außer Kontrolle geraten lassen. Deshalb hält man sich damit zurück.
Die Frage für die nächsten Monate und Jahre ist: Kann Herrschaft die Angst wieder auf ein Maß zurück regeln, das den Unabhängigkeitsdrang der Menschen wieder reduziert. Weniger Freiheitsstreben und mehr begrüßte Abhängigkeit; weniger Verzweiflung und mehr Vertrauen begrüßte Abhängigkeit.
Wir werden es erleben. Es bleibt spannend. Die nächste Krise steht ja schon vor der Tür: die Ungleichheits- und Rentenkrise.