Meine Freiheit, deine Freiheit
Der Impfzwang - de facto durch Einschränkungen für Ungeimpfte oder eine dermaleinstige Impfpflicht - wird mit der trivialen Formel, dass des einen Freiheit dort ende, wo sie des anderen einschränke, begründet.
Aber ist es wirklich so, dass sich daraus zwangsläufig ableiten lässt, dass ein Impfunwilliger sich impfen lassen muss, falls er ihr und der dahinter stehenden geballten Moral nicht zuwiderhandeln will? Wenn schon nicht aus Solidarität, dann wenigstens aus logischer Konsequenz?
Ich bezweifle das.
Eine Analogie:
Robert ist Kettenraucher. Das ist sein gutes Recht.
Nadine ist Nichtraucherin. Das ist ihr gutes Recht.
Robert wie Nadine leben ihre Freiheit aus. Solange Robert und Nadine sich nicht begegnen, haben sie kein Problem, so unterschiedliche Entscheidungen im Rahmen ihrer Freiheit getroffen zu haben.
Was nun aber, wenn das Schicksal beide zum Warten auf einen Bus im strömendem Regen in einem Unterstand an der Bushaltestelle zusammenführt?
Sobald Robert die erste Zigarette anzündet, bedrängt er Nadine in ihrem Freiheitsraum. Sie kann sich nicht ohne weitere Entscheidung ihrer Nichtraucherfreiheit erfreuen. Was kann sie tun?
Nadine erträgt stumm Roberts Qualmschwaden und wirft ihm nur ab und an böse Blicke zu.
Nadine entfernt sich von Robert, so dass sie nicht mitraucht - allerdings steht sie nun im Regen.
Nadine spricht Robert an, um ihn vom Rauchen abzuhalten.
Das scheinen mir Nadines Mittel im Rahmen der Legalität zu sein. Sie kann kein Recht einklagen; an der Bushaltestelle herrscht kein Rauchverbot. Sie kann Robert auch nicht die Zigaretten wegnehmen (Diebstahl) oder ihm durch eine gebrochene Nase die Lust am Rauchen vergällen (Körperverletzung).
In einer freiheitlichen Gesellschaft - d.h. einer, bei der Freiheit das höchste Gut ist, nicht Gesundheit, denn sonst gäbe es schon lange ein grundlegendes Rauchverbot, Alkoholverbot, drastische Zuckerreduktion usw. usf. - gibt es also nur zwei Möglichkeiten, bei einer empfundenen eigenen Freiheitseinschränkung durch Freiheitsausübung anderer:
Persönliche Güterabwägung
Interpersönliche Verhandlung
Im Beispiel besteht die Güterabwägung für Nadine darin zu überlegen, ob sie lieber trocken oder rauchfrei sein möchte. Sie hat die volle Freiheit, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Sie muss nicht auf ihre Freiheit zum Nichtrauchen verzichten - nur ist das nicht möglich, ohne dafür einen Preis zu zahlen.
Mit der Freiheit, nicht zu rauchen, kommen für Nadine keine weiteren Rechte einher. Nicht zu rauchen, bedeutet nicht automatisch, dabei warm und trocken zu sein.
Dasselbe trifft natürlich auch auf Robert zu. Seine Freiheit, zu rauchen, kommt mit keinen weiteren Rechten. Zu rauchen, bedeutet nicht automatisch, dabei warm und trocken zu sein.
Wenn Nadine sich nicht für trockenes Mitrauchen und auch nicht für durchnässtes Nichtrauchen entscheiden will, kann sie noch den Dialog suchen. Sie kann mit Robert als gleichberechtigtem Freiheitsnutznießer darüber verhandeln, wie sie am besten miteinander auskommen mit so unterschiedlichen Präferenzen.
Nadine kann verhandeln, d.h. sie kann Robert eine Bitte antragen. Sie ist nicht in der Position, eine Forderung zu stellen. Für eine Forderung müsste es eine gesetzliche Grundlage geben, z.B. ein ausgewiesenes Rauchverbot an der Haltestelle.
Vielleicht wartet Nadine eine Zigarette von Robert ab - sie gönnt ihm seine Freiheit und schränkt sich kurzzeitig sein. Bei der zweiten kurz darauf, spricht sie ihn dann an und fragt, ob nun er ein wenig auf seine Freiheit verzichten könne; sie störe der Qualm und sie wolle auch den Schutz der Überdachung genießen.
Wenn Robert nett ist, kommt er Nadines Bitte nach. Eine Pflicht dazu gibt es nicht.
Die Freiheit des einen, die die Freiheit des anderen einschränkt, kann also nicht mit forderndem Ton angeführt werden. Es gibt keinen zwingenden logischen Schluss, der dazu führt, eine freie Handlung zu unterlassen, weil ein anderer seine dadurch beeinträchtigte Freiheit beklagt.
Dass Menschen gegenseitig Freiheiten einschränken, ist die Norm, wie in jeder Fußgängerzone zu beobachten ist: Die Menschen bewegen sich nicht egoistisch frei, sondern sind in ständiger Verhandlung mit anderen. Sie wägen ständig die Freiheit zur Verfolgung des eingeschlagenen Weges ab mit der Freiheit des anderen, seinem Weg zu folgen.
Ein erwachsenes Verhalten zwischen Robert und Nadine an der Bushaltestelle führt also entweder zu stummer Entscheidung bei Nadine, sich mit Roberts Rauchen zu arrangieren - oder zum Dialog auf Augenhöhe, in dem keine Seite mehr Recht hat, also keine Forderung stellen kann.
Nun ist Rauchen gesundheitsrelevant; Gesundheit ist ein hohes Gut. Was Robert mit sich tut, ist seine Sache. Sobald er jedoch Nadine in eine Qualmwolke hüllt, gefährdet er ihre Gesundheit. Hat Nadine kein Recht auf Gesundheit? Kann sie nicht doch eine Forderung an Robert stellen, ihre körperliche Unversehrtheit durch Einschränkung seiner Freiheit zu erhalten?
Wäre Roberts Qualm eine unmittelbare und unzweifelhafte und massive Gefahr für Nadine, würde ich dem eher zustimmen. Robert hat auch die Freiheit, sich mit Schleudergymnastik zu ertüchtigen, wo er mag - doch er darf durch seine ausholenden Bewegungen niemanden gefährden.
Einerseits.
Denn andererseits… einer gesundheitlichen Schädigung durch geschleuderten Arm im Gesicht oder belasteter Lunge durch Qualm steht die Freiheit gegenüber, sich dem schädigenden Einfluss zu entziehen.
Und was, wenn die Gefahr nicht unmittelbar, unzweifelhaft und massiv ist? Umso weniger kann dann ein Recht auf Unterlassung abgeleitet werden, denke ich.
Wenn dazu noch kommt, dass der, der sich eingeschränkt fühlt, auch noch alternative Wege zum Selbstschutz hat, dann ist eine Forderung gänzlich unangebracht.
Und so auch bei der Impfung.
Ungeimpfte stellen keine unmittelbare, unzweifelhafte, massive Gefahr für einander dar. Außerdem hat der, der sich gefährdet fühlt, mehrere Optionen:
Sich impfen lassen
Ungeimpften aus dem Weg gehen
Eine Bitte äußern
Vor allem Letzteres: Wer Angst vor Ungeimpften hat, kann eine Bitte äußern. Er darf auch Propaganda für die Impfung machen. Eine Forderung, ein Zwang jedoch, lassen sich nicht aus der Formel ableiten, dass die Freiheit des einen nicht die des anderen einschränken darf.
Wenn wir aufhören, die Freiheit als das höchste gesellschaftliche Gut anzusehen und die daraus folgend notwendig ständige Diskussionsbereitschaft, dann verlieren wir die Freiheit.
Vielleicht wird etwas anderes kurzzeitig gewonnen - langfristig jedoch fällt die Gesellschaft massiv zurück.
Das ist schwer einzusehen für alle, die große Angst haben und verzweifelt sind, dass andere diese Angst nicht teilen, sondern ihnen scheinbar sogar mit ihrer Ignoranz noch schaden. Sich zurückzuhalten und nicht zu schreiben, zu fordern, zu strampeln, zu zwingen, ist in großer Angst kaum möglich. Das verstehe ich sehr gut. Aber es ist nötig.
Mit Forderungen werden Lagergräben ausgehoben. Finden wir den Weg zu mehr Bitten.
#corona #gesellschaft