Propaganda gegen das Vergessen
Das Leben könnte ein langer ruhiger Fluss sein, wenn da nicht die Propaganda wäre. Wer würde sich je am 14. Februar aus der Ruhe bringen lassen ohne Valentinstag-Werbung?
Der Tag wäre es ganz normaler, ganz unaufgeregt. Einige Männer würden vielleicht im Rausch der Hormone und einer noch unreflektierten gesellschaftlichen Rolle ihrer Liebsten eine Aufmerksamkeit zukommen lassen — die meisten aber wohl nicht.
So war es zumindest früher. Der Valentinstag war in Deutschland kein Anlass für spezielle Zuwendung. Genauso wenig wie der Muttertag. Nur am Vatertag schenken Männer sich selbst Aufmerksamkeit.
Inzwischen hat der Kapitalismus aber den Valentinstag entdeckt! Ist der nicht ein Grund zum Feiern? Wie auch übrigens der Muttertag und der Vatertag und Halloween. Ostern und Weihnachten sind so selten. Der abhängig Beschäftigte verdient in seinem tristen Leben mehr Anlässe zur Konsumfreude. Wenn er die im Alltagsstress nicht selbst erinnert oder erkennt, dann helfen Unternehmen gerne nach.
So ein visueller Stubs ist für alle ein Gewinn: Der Mann vergisst nicht mehr, sich ganz individuell an diesem Tag nochmal ins Herz der Frau zu spielen. Und ganz zeitgemäß wird die Frau nun ebenfalls dazu angeregt, ihren Liebsten nicht zu vergessen; immerhin lagen bisher 50% Konsumentenpotenzial brach, solange der Valentinstag nur Männer an ihre heilige Pflicht erinnert hat. So verbindet sich am Valentinstag nun ganz ungezwungen Freude über unerwartete Aufmerksamkeit mit der Gewissheit, das Richtige getan zu haben, mit dem Glück erhöhten Umsatzes. Was kann man daran nicht mögen?
Gut, dass es Werbung gibt! Die Wichtigen Dinge im Leben würden sonst ganz in Vergessenheit geraten. Auf das eigene Gefühl sollte sie kein Konsument verlassen.
Genauso beim Impfen:
Ohne Propaganda würde der gestresste Konsument übersehen, dass er da noch eine Pflicht hat. Im Sperrfeuer der täglichen Sorgen würde er nicht spüren, was von ihm erwartet wird; denn auf der Straße ist die Pandemie ja nicht zu bemerken. Wenn der Konsument schon an die Freundin (oder den Freund) erinnert werden muss, dann allemal auch an den ferneren Nächsten, den es mit der eigenen Impfung zu retten gilt, selbst man nicht wahrnehmen kann, dass das nützt.
Propaganda hilft. Sie hilft gegen das Vergessen dessen, was man nicht spürt. Wie gut, dass es Propaganda gibt. Oder?