Niemand hat die Absicht...
Politik: Das Geschäft, in dem Wahrheit und Haltung ein Hindernis sind
Je fester die Garantie, desto größer die Lüge: Das scheint mir die unausweichliche Erkenntnis der letzten zwei Jahre.
Nicht, dass Politiker sich nicht schon früher überzeugungsbiegsam und wahrheitsflexibel gezeigt hätten. Wir erinnern uns zum Beispiel an:
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!", Walter Ulbricht 2 Monate vor dem Mauerbau
“I did not have sexual relations with that woman.”, Bill Clinton über seine Beziehung zu Monika Lewinsky
“Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen.”, Adolf Hitler über den “Startschuss” für den 2. Weltkrieg
Die Lüge scheint zum Geschäft der Politik zu gehören. Wer will denn auch schon seine Karriere mit Wahrheit beschädigen oder ein “Herzensprojekt” durch Ehrlichkeit gefährden?
“Die Wahrheit führt in sehr vielen Fällen zum politischen Tod.”, Karl Lauterbach
Interessant! Und für sich genommen vielleicht die Ausnahme als ehrlich gemeinte Einschätzung. Wahrheit und Standhaftigkeit sind mithin etwas für Prinzipienreiter, aber nicht für Realisten der Opportunität.
Das ist nicht neu. Allerdings war es vielleicht noch nie so in Echtzeit zu beobachten, wie heute. Social Media sind vielleicht doch nicht nur fake news spreader, sondern auch Zeitraffer-Maschinen, in denen Gestern und Heute unmittelbar nebeneinander beobachtet werden können. Was dem unbewaffneten Auge statisch erscheinen mag, wird so in seiner Bewegung erkannt:
Politiker sind keine Haltungskünstler, sondern Schlangenmenschen.
Oder ist das ein ungerechtes Urteil? Haben all die oben zitierten Corona-Politiker einfach nur ihre Meinung geändert nach Studium einer aktualisierten Faktenlage? Immerhin gab schon Friedrich Nietzsche zu bedenken:
„Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein.“
Sollten wir uns also freuen, Politiker stets auf der Höhe einer sich entfaltenden Situation zu haben? Das wäre schön, nur glaube ich nicht daran. Solche 180°-Wendungen sind für mich kein Ergebnis ringenden Denkens und Studierens. Denn ohne Ringen und Studieren darf es nicht gehen bei einem so fundamentalen Eingriff in Leben und Gesundheit von Millionen.
Der Vortrag der “Überzeugungen” ist mir dafür jedoch zu nonchalant und in jedem Stadium zu gewiss. Wer 2020 gesagt hätte, “Ich hoffe, wir kommen nicht in eine Situation, in der wir Massenimpfung, gar eine Impfpflicht brauchen.”, dem hätte ich Ende 2021 ein “Leider hat sich die Situation viel schlechter entwickelt, als wir erhofft hatten. Mir scheint nun, dass eine Impflicht doch nötig sein könnte. Aber wir müssen ihre Angemessenheit, Eignung und Verhältnismäßigkeit noch mit den Experten unterschiedlicher Seiten diskutieren.” abgenommen.
Doch so sind sie nicht, die Politiker. Sie sind nicht differenziert. Sie sind nicht abwägend. Sie sind nicht offen für ein Meinungsspektrum. Sie wollen keinen öffentlichen Dialog.
Nein, sie sind stets selbstgewiss, überlegen und im Recht.
Vielleicht ist das ihr Verständnis der gewünschten Eigenschaften von Volksführern? “Du kannst zweifeln, aber du darfst das nie, aber auch wirklich nie zeigen. Die Menschen wollen Klarheit.” Ist das ihr Rollenverständnis?
Ja, vielleicht hat man sie so beraten. Und es mag ja Führungssituationen geben, in denen genau das angemessen ist. Eine sich über Monate und Jahre entfaltende Lage braucht jedoch etwas anderes. Hier ist Demut gefragt. Je tiefer die Eingriffe in die Gesellschaft, desto mehr.
Umso mehr, da keiner dieser “Gestaltwandler” je skin in the game hatte. Skin in the game ist nicht, dass eine Wiederwahl auf dem Spiel steht. Nein, skin in the game würde bedeuten, selbst von den Entscheidungen tief betroffen zu sein. Keiner von ihnen hat erfahren, wie es ist…
eingesperrt zu sein auf 60qm mit 2 Kindern,
ganztägig körperliche Arbeit mit Maske verrichten zu müssen,
die Ersparnisse aufzubrauchen, weil das eigene Geschäft geschlossen bleiben muss oder
die Kinder und Enkel nicht in den Arm nehmen zu können und auch sonst keinen körperlichen Kontakt mehr zu haben in Einsamkeit.
Keine Betroffenheit, weder emotional, noch real. Kein skin in the game bei den beschlossenen Maßnahmen. Sie alle sind Astronautenpolitiker, die über den Verhältnissen sicher in einer Politikblase schweben. Von oben herab verkünden sie heute dieses und morgen jenes, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Denn selbst eine Abwahl ist keine existenzielle Konsequenz: Wer in der Politik scheitert, bekommt einen gut dotierten Posten in der Wirtschaft; Connections sind bares Geld wert!
Und umgekehrt: Früher hieß es, “Wer nichts wird, wird Wirt.” Das müsste wohl aktualisiert lauten: “Wer nichts packt, platziert sich vor das Pack.” Nichts gelernt, aber führen: vier bei den Grünen machen es beispielhaft vor. Das kann ja nicht so schwer sein, oder? Man muss vor allem das Gute wollen. In jedem der Fälle: no skin in the game. Aus dem Stand in die Umlaufbahn katapultiert. Der Kontakt “mit dem Fußvolk” wurde vermieden, so weit es ging und ist in der selbstreferenziellen Politikblase auch nicht mehr nötig.
Was ist von solchen Politiktreibenden zu erwarten? Ihr Überleben hängt am Ende nicht von Überzeugungen ab, die in Werten wurzeln, die sie mit der Gesellschaft teilen. Ihre Fitness für den Fortbestand der Karriere hängt nicht an Wahrheit. Sie sind schöne Beispiele für das fitness beats truth (FBT) Theorem.
Jeder Wahlbürger sollte das verstehen. Nur dann macht die Beobachtung, dass ihre Überzeugung von heute für Politiker morgen ein uninteressantes Gewäsch sind. Die Festigkeit ihrer Behauptung hat keinen Prognosecharakter für ihre Taten. Oder wenn, dann eher einen inversen. Die abzuleitende Regel scheint: “Nimm für die Zukunft das Gegenteil von dem an, was heute im Brustton der Überzeugung versprochen wird.” Ja, das scheint mir eine zeitgemäße, wenn nicht gar zeitlose Heuristik.