Städte sind ein Problem. Das glaube ich mit jedem Tag mehr, den ich in Bulgarien auf dem Land lebe. Hier habe ich Zeit zum Nachdenken und und habe neulich The Courage to be Disliked gelesen. Dadurch bin ich auf Folgendes gekommen….
Der Mensch ist evolutionär auf ein Leben in einer kleinen Gemeinschaft angelegt. Er ist für sich genommen nicht kräftig und nicht robust. Aber in Gemeinschaft ist er zu vielem fähig und unglaublich flexibel.
Diese kleinen Gemeinschaften waren auf sich gestellt und hatten nur vergleichsweise wenig Kontakt mit anderen. Die Zahl der Menschen, die ein Mensch in seinem Leben getroffen hat, war über die gesamte Entwicklungsgeschichte — bis auf die letzten 15.000 Jahre — wahrscheinlich sehr, sehr klein, vielleicht nur 500 oder sogar viel weniger.
In den kleinen Gemeinschaften waren alle auf alle angewiesen. Jeder musste sich einbringen; auf jeden musste kompletter Verlass sein. Der Mensch hat sich also in einer Umgebung totalen Vertrauens entwickelt. Er kannte alle anderen Gemeinschaftsmitglieder lebenslang.
In den Gemeinschaften gab es natürlich Fluktuation durch Geburt und Tod und auch gelegentliche Zuwanderung. Im Wesentlichen waren sie aber stabil. Das bedeutet, auch die Aufgaben für jedes Mitglied waren stabil. Und damit war die Position jedes Mitglieds stabil. Alles andere wäre auch nicht ökonomisch und sogar gefährlich: Ständige Positionsstreitigkeiten kosten Kraft und destabilisieren. Das kann sich eine Gemeinschaft umgeben von Natur, die sich nur mühsam meistern lässt, nicht leisten.
So war das. Hunderttausende Jahre lang. Darauf sind die Gehirne der Menschen geeicht. Das ist eine Situation, die für Menschen emotional bekömmlich ist, weil sie natürlich ist.
Und dann die Urbanisierung.
Dass sich Menschen zu größeren und immer größeren Gruppen zusammengefunden haben, ist historisch neu. Was auch immer die Gründe dafür gewesen sein mögen… Ich glaube, damit ist eine Entwicklung in Gang gekommen, die über gute Effekte weit hinaus gegangen ist. Die negativen Seiten des Zusammenschlusses zu größeren Gruppen überwiegen für mich heute.
Denn was passiert zwangsläufig, wenn Menschen permanent in der Unüberschaubarkeit leben und ständig Unbekannten begegnen? Ich stelle mir das so vor:
Es ist eine ganz unnatürliche Situation, die Menschen nicht intim zu kennen, die um einen herum sind. Doch das ist die Normalität in einer Stadt. Der Grundzustand ist damit nicht mehr der von Vertrauen, sondern dessen Fehlen, also Misstrauen.
In einer großen Menge von Menschen ist auch nicht mehr klar, was der eigene Beitrag ist. Die natürliche Wertschätzung fehlt. Die eigene Position muss deshalb immer wieder bestätigt werden.
Das Grundmisstrauen und der Positionierungszwang führen zu einem Lebensmodus im Wettbewerb (competition). Wo es in den ursprünglichen kleinen Gemeinschaften nur mit Zusammenarbeit (cooperation) in Vertrauen ging, müssen Menschen sich in der Stadt zusammenreißen, um mit den ihnen Unbekannten irgendwie gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Das führt zu einem hohen Grundstress.
Der Stress will sich, sobald möglich, natürlich entladen. Entspannung wird gesucht. Die ist schwer zu erreichen durch eine sichere Position; andere Menschen können nicht verlässlich kontrolliert werden, so dass sie keine Gefahr darstellen. Sobald es geht, wird deshalb die Stabilität im Dinglichen gesucht. Dinge lassen sich viel leichter kontrollieren. Etwas zu haben, ist leichter, als etwas zu sein.
Um Dinge zu kontrollieren, braucht es Geld. Geld gibt es nur für Arbeit. Städter sind mithin dazu gezwungen, ständig zu arbeiten. Nur so können sie den Verlust des “Urvertrauens” der kleinen Gemeinschaften kompensieren.
Das bedeutet für mich im Umkehrschluss: Solange ein Mensch noch in der Stadt lebt, kann er aus dem Hamsterrad nicht aussteigen. Er kann sich eine Menge vornehmen — weniger arbeiten, weniger konsumieren, mehr auf die Gesundheit achten —, doch die strukturelle Unnatürlichkeit des urbanen Lebens kann dadurch nicht überwunden werden.
Das Preisniveau in der Stadt ist zwangsläufig höher als auf dem Land. Eine eigene Wohnung ist für immer weniger Menschen möglich. Selbstversorgung — auch nur anteilig — ist unmöglich. Geld wird für alles gebraucht, auch und gerade für die Entspannung. Weniger Konsum ist in der Stadt nur sehr begrenzt möglich. Damit fällt in der Stadt die Kompensation für den Stress schwer, den Stadt qua Struktur erzeugt. Der entsteht nicht nur durch Lärm und Abgase und Abwesenheit von Natur; der entsteht eben auch durch die Unzahl an Unbekannten. Der Mensch ist nicht dafür gemacht, jeden Tag einer anonymen Masse gegenüber zu stehen, glaube ich.
Was daher seit der Achsenzeit vor ca. 2500 Jahren denn auch immer wieder empfohlen wird ist der Rückzug in die Einsamkeit. Damit wird eine positive Entwicklung der menschlichen Psyche verbunden. Das steckt für mich auch im Kern der Meditation: Rückzug von den Reizen. Denn damit werden Menschen in der Stadt überflutet.
Wie anders ist das Leben in der Natur!
Ich sehe täglich meistens nur 1-10 Menschen und davon kenne ich die meisten auf die eine oder andere Art. An manchen Tagen begegne ich aber auch keinem. Büsche, Bäume, Berge sind ruhig. Sie stellen keine Ansprüche an mich. Selbst der Hund, der mit uns lebt, ist ruhig; in seiner Gegenwart spüre ich kein Misstrauen. Ich werde nicht aufgefordert zum Konsum; keine Nachrichten in Form von Werbung oder Zeitungsüberschriften heischen meine Aufmerksamkeit.
Auf diese Weise habe ich eine Chance, aus dem Hamsterrad auszusteigen. Auch nach 3 Jahren Bulgarien ist dieser Prozess allerdings noch nicht abgeschlossen. Die Konditionierung des urbanen Lebens sitzt tief. Ohne die Natur vor der Haustür wäre ein “Detox” jedoch aussichtslos.
Artgerecht lebt der Mensch nur naturnah in kleinen Gemeinschaften. Alles andere hält er zwar aus; seiner Gesundheit förderlich ist das jedoch nicht. Das Leben in Städten ist artschädlich — da helfen auch keine verkehrsberuhigten Zonen oder Dachbegrünung.
Aber auch hier mag die Dosis das Gift machen. Für eine gewisse Zeit bietet die Stadt vielleicht genügend Nutzen, um sich auf ihre Schädlichkeit einzulassen. Während des Aufwachsens, scheint sie mir allerdings auf keinen Fall empfehlenswert. In der erwachsenen Ausbildungs- und Findungsphase zwischen 20 und 35 können jedoch die Verbindungen, die sich in ihr schneller schließen lassen, vielleicht das Risiko wert sein. Und vielleicht bietet sie auch im hohen Alter noch einen Versorgungsvorteil — vielleicht aber auch nicht und es ist angenehmer, den Lebensabend in der Ruhe der Natur zu verbringen, selbst wenn er dann 2-3 Jahre kürzer ausfallen sollte, weil ein Rettungswagen nicht so schnell da sein kann.
Dass Menschen in Städten leben, dass sie sich zu Städten hingezogen fühlen, ist wohl unumkehrbar. Eine neue Phase in der Menschheitsentwicklung. Städte sind allerdings auch nur eine Technologie. Wie anderen Technologien sollten sie deshalb nur dort eingesetzt werden, wo sie dem Leben dienlich sind. Die Freiheit zu behalten, auf die Technologie zu verzichten, empfinde ich deshalb für ein gelingendes Leben unverzichtbar.
Natürlich wollen Städte die Menschen von sich abhängig machen. Es obliegt deshalb jedem, sich die Unabhängigkeit zu erhalten, d.h. die Möglichkeit, artgerechter zu leben.