Realität ist auch nicht mehr das, was sie mal war
Früher, ganz früher war real, was jeder einzelne erlebt hat (Realität 1. Ordnung): Vogelzwitschern dort, umgeknickter Fuß hier, ein kühles Bier jetzt. Und auch: drei Tage zuhause mit Fieber, der Großvater gestorben am “Herzschlag”.
Außerdem war real, was Vertrauenpersonen an Erlebnissen berichteten (Realität 2. Ordnung): die Urlaubserinnerung des Cousins, das Erlebnis des Freundes mit seiner neuen Flamme, die Kriegserlebnisse des Onkels.
Dass diese Berichte - wie allen Erinnerungen - stets eine gewisse Skepsis vertrugen, war jedem klar. Doch so ganz grundsätzlich konnten sie als zumindest bemüht ehrliche Realitätsbeschreibungen akzeptiert werden. Auf diese Weise war Realität nicht auf das beschränkt, was hier und jetzt jedem Einzelnen widerfuhr, sondern war in Raum und Zeit ausgedehnt.
Das war good enough für’s tägliche Leben.
Auftritt Medien
Medien stehen zwischen uns und der Realität. Sie versprechen, den Realitätshorizont auszudehnen. Selbst Freunde, Verwandte, Kollegen sind schon Medien, doch hier sind wir mit den Medien noch direkt bekannt und vertrauen ihnen aus eigener Erfahrung berechtigt.
Medien als solche begrifflich herauszuheben macht deshalb erst Sinn, wo sich dieses Verhältnis grundlegend ändert. Das ist der Fall, wenn wir die Berichterstatter nicht mehr kennen und kein belastbares Vertrauensverhältnis mit ihnen haben - umso mehr, wenn die Berichterstatter nicht ihre eigene Erfahrung berichten, sondern die von anderen (Realität 3. Ordnung).
Solche Medien versprechen uns, unseren Realitätshorizont drastisch zu erweitern. Persönliche Begegnungen mit Fremden, die von ihrer Realität berichten, standen am Anfang. So richtig sind Medien aber erst mit dem Buchdruck in Fahrt gekommen. Bücher, dann Zeitungen waren Massenmedien. Mit ihnen explodierte die Realität - oder zumindest das, was sich als Realität ausgab. Denn welchem Berichterstatter in den Medien kann man trauen?
Ja, wie entwickelt sich eigentlich berechtigtes Vertrauen zu Medien? Das scheint mir eine sehr aktuelle Frage, da mit dem Internet nun auch die Zahl der Medien explodiert ist.
Auftritt Autoritäten
Wer berichtet uns eigentlich über Dinge, die wir nicht selbst erfahren haben? Sind es “Menschen wie du und ich”? Oder sind es besondere Menschen, die sich nicht nur durch andere Erfahrungen von uns unterscheiden, sondern durch ihre Bedeutung für uns.
Wenn der Vater dem Kind berichtet ist das Verhältnis in dem berichtet wird, ein anderes, als wenn der Freund dem Freund oder der Bürgermeister dem Vater berichtet.
Für wie realitätsnah wir einen Bericht halten, hängt davon ab, welches Verhältnis ein Berichterstatter zu uns hat. Das Vertrauen zu ihm ist dabei abhängig von unserer sonstigen Erfahrung mit ihm - und ob es ein Abhängigkeitsverhältnis gibt.
Wenn die, denen wir Bestimmungsrecht über uns übertragen haben, etwas berichten, dann sind wir geneigt, ihnen zu vertrauen. Wenn hingegen Berichterstatter zwar Bestimmungsrecht haben, wir es ihnen jedoch nicht anvertraut haben… dann misstrauen wir ihnen eher.
Die Berichte von Autoritäten, d.h. den Menschen mit Bestimmungsrecht über uns, halten wir für umso realitätsnäher, je legitimer ihre Autorität uns erscheint.
Es scheint mir ebenfalls eine hochaktuelle Frage zu sein, inwiefern das Vertrauen, das Autoritäten genießen, berechtigt ist.
Oder anders herum: Sehen wir einen Vertrauensverlust in die Berichte von Autoritäten in Massenmedien, weil eine zunehmende Zahl von Menschen die Legitimität der Autorität in Frage stellt?
Auftritt Wissenschaft
Selbst die Realität 1. Ordnung hat nicht den Anspruch, wirklich die Realität zu sein. Sie ist lediglich eine genügend gute Näherung für den Alltag. Absolute Wahrheit - Wirklichkeit - und Tauglichkeit sind gegeneinander abzuwägen. Um handlungsfähig zu bleiben, müssen wir uns deshalb meistens für Tauglichkeit entscheiden.
Anders die Wissenschaft. Ihr geht es um die Wirklichkeit, um das, was selbst hinter der Realität 1. Ordnung steht, um das Absolute, das Unbestreitbare.
Die Wissenschaft verspricht, Autorität in Sachen Realität zu sein qua Organisation: Durch die Beziehung zwischen Wissenschaftlern und ihre Methoden soll sichergestellt sein, dass Aussagen der Wissenschaft unzweifelhaft sind.
Die Wissenschaft erfindet nichts, sie findet nur, was ist. Andere Berichterstatter mögen Geschichten als Realität ausgeben, nicht so die Wissenschaft. Das ist ihr Programm.
Wo in Medien Wissenschaftler Berichterstatter sind, können wir also vertrauen.
Ja, können wir das? Diese Frage scheint mir sehr aktuell. Wird die Wissenschaft ihrem Anspruch gerecht? Kann sie das überhaupt? Oder verstehen wir ihn falsch?
Die Herrschaft medialer Berichterstattung
Mir scheint, wir leben schon lange vor allem in einer Realität 3. Ordnung. Was wir “wissen”, haben wir nicht selbst erfahren oder aus belastbar vertrauenswürdiger Quelle, sondern ist eine Behauptung, die wir nur schwer überprüfen können.
Wir leben insofern in einer virtuellen Realität. Die muss nicht erst von IT-Konzernen erschaffen werden. Sie ist schon heute Wirklichkeit: vermittelte Realität wirkt mehr auf uns, als gespürte.
Das ist ein Zustand, in dem die Welt funktioniert. Ihm verdanken wir den Wohlstand, in dem viele Leben - und die Armut, in der noch mehr leben.
Wohlstand, wie wir ihn heute kennen, ist ein Produkt der Herrschaft medialer Berichterstattung, in der Wissenschaft und Autoritäten uns die Welt erklären - wie sie sie sehen.
Es ist wohl auch nicht anders möglich. Wenn wir unseren Horizont erweitern wollen, müssen wir auch unser Vertrauen ausdehnen auf Medien. Wie aber bauen wir berechtigtes Vertrauen auf? Reicht es, dass Medien Mitteilungsorgane für Wissenschaft und Autoritäten sind?
Ich denke, die Zeiten zeigen, dass unser Vertrauen in Medien allzu leicht auf Sand gebaut ist. Die Zeit der unhinterfragten Legitimation ist vorbei. Die bisherigen Legitimationsmechanismen funktionieren (schon länger) nicht mehr, wie wir es erwarten. Ein Medium selbst steht nicht einfach für Vertrauenswürdigkeit, ebenso wenig eine Autorität oder die Wissenschaft. Vertrauen muss ständig erarbeitet, verdient werden.
Nun haben die Institutionen Medien, Wissenschaft und Autorität ihre eigenen Organisationsgesetze und in ihnen arbeiten Menschen mit ihren ganz eigenen Bedürfnissen. Letztlich müssen wir also diesen Menschen im Spannungsfeld der Organisationsgesetze vertrauen, wenn wir von Realität jenseits unseres Horizontes verlässlich erfahren wollen. Unsere Vertrauenspartner sind einzelne Medienschaffende, Wissenschaftler und Autoritätspersonen.
Können wir ihnen vertrauen? Was können sie tun, um unser Vertrauen zu verdienen? Was müssen wir tun, wenn wir nicht sicher sind, ob wir ihnen vertrauen können?
Selbsterfahrung tut Not
Ich denke, wir müssen uns zuerst rückbesinnen auf die Realität 1. Ordnung. Wir müssen ihr wieder einen höheren Stellenwert einräumen. Das bedeutet, wir sollten das Globale, das uns in Medien vor allem präsentiert wird, wieder an seinen angemessenen Platz stellen: das ist die Peripherie unserer Realität. Für mich sehen die Bedeutungsprioritäten deshalb so aus:
Personal - was nehme ich selbst wahr?
Lokal - was nehmen meine unmittelbar Vertrauten wahr?
Regional - was nehmen die nahen Autoritäten wahr, zu denen ich noch einen Bezug haben kann?
National - was nehmen überregionale Wissenschaft und Autoritäten wahr?
Global - was nehmen Wissenschaft und Autoritäten in fernen Weltgegenden wahr?
Die Prioritäten 1, 2 und 3 verdienen, aufgewertet zu werden. Wenn unser Leben mehr von nationalen, denn lokalen Realitätsbehauptungen bestimmt wird, leben wir in ständiger Spannung aufgrund der Vertrauensabhängigkeit zu den fernen Berichterstattern.
Zweitens müssen wir uns angesichts bröckelnder und ungewisser Legitimation, d.h. Vertrauensverlust in Medien und Wissenschaft und Autoritäten, breiter informieren. Solange die Legitimationen nicht solider sind, müssen wir sie durch eigenen Aufwand kompensieren. Wir können nicht einfach einer Quelle vertrauen, auch wenn das sehr bequem wäre. Solange es verschiedene Quellen gibt, sind wir gut beraten, verschiedene Quellen zu konsultieren - um uns dann selbst ein Bild der Realität zu konstruieren.
Was in einem Medium von einer Autorität, die sich auf eine Wissenschaft bezieht, berichtet wird, können wir nicht (mehr) als Fakten hinnehmen. Die Realität wird nicht einfach “dort drüben” erkannt und brummt uns 1:1 per Leitmedium auf den Tisch. Wenn wir ernsthaft hinter unseren Erfahrungshorizont schauen wollen, kommen wir nicht umhin, die behaupteten Erfahrungen anderer durch eigene Filter laufen zu lassen. Wir müssen uns unseres Verstandes bedienen.
Fakten entstehen nicht woanders, sondern immer noch ausschließlich in uns. Sie sind persönlich und temporär. Dieser individuelle Faktenproduktionssprozess hat für mich drei Schritte:
Was bedeuten mir meine eigenen Rohdaten aka Erfahrungen?
Wie interpretiere ich die Rohdaten anderer?
Was mache ich mich mit den Interpretationen anderer?
Zu oft nehmen wir die Interpretationen anderer hin als Realitätsbeschreibungen. Wir sind bequem und unsauber in Schritt 3. Mehr Mühe im 3. Schritte, aber vor allem mehr Mühe bei den Schritten 1 und 2 finde ich wichtig, um aus der medialen Herrschaft herauszutreten in mehr Selbsterfahrung.
Wenn Medien, Autoritäten und Wissenschaft nicht zu vermeiden sind, dann müssen wir ihre Herrschaftsansprüche wenigstens in Schach halten. Das kostet Aufwand - doch der ist eine Investition in Klarheit und Unabhängigkeit.
#faktenfrei