Recht ist kein Naturgesetz
Alle Unfreiheit beginnt in mir selbst. Ich muss gar nicht erst jemanden suchen, dem ich vorwerfen könnte “Du beschränkst meine Freiheit!”
Ich finde diesen Gedanken ganz naheliegend. Vielleicht ist er so offensichtlich, dass man ihn deshalb übersieht? Sozusagen hiding in plain sight? Klar geworden ist mir das bei Lektüre dieser Passage:
„Hat ein anderer – ganz gleich, ob Mensch oder Staat – tatsächlich das moralische Recht, Menschen zur Impfung zu drängen oder zu zwingen, sobald empirisch mit ausreichender Sicherheit (wonach auch immer sich dieses »ausreichend« bemessen lassen sollte) festgestellt wurde, dass der Nutzen des Einsatzes dieser Technik den Schaden überwiegt? Anders gefragt: Sobald der Nutzen einer Sache ihren Schaden zu übertreffen verspricht, dürfen wir dann die Verfügungsgewalt der Menschen über ihre körperliche Integrität völlig außer Acht lassen?“, Gunnar Kaiser, Die Ethik des Impfens
Diese Frage kann man innerhalb der Vorstellung erörtern, dass es Recht gibt und das Recht bindet. Doch das finde ich letztlich begrenzend. Denn damit bin ich auf Reaktionen innerhalb des Rechtes festgelegt. Ich muss für meine Reaktion darauf warten, dass sie rechtens ist.
Das scheint irgendwie eine zivilisatorische Errungenschaft. Auf diese Weise bewegen sich Reaktionen in einem überschaubareren Rahmen; Menschen sind weniger unberechenbar.
Darüber sollten wir jedoch nicht vergessen, dass diese Beschränkung freiwillig ist. Es ist eine Selbstbegrenzung; sie existiert nicht absolut; wir können sie jederzeit aufgeben. Recht ist eben kein Naturgesetz. Bei genügendem Leiden am Recht, kann ich mich ihm entziehen.
Einem Naturgesetz kann ich nicht ausweichen. Ich kann mich nur in ihm einrichten. Das kann plump sein oder kunstvoll — ich habe jedoch nicht die Freiheit, mich außerhalb zu verhalten.
Anders ist es mit “Recht und Gesetz”. Hier steht mir jederzeit frei, einen Rechtsraum zu verlassen. Im Extrem bedeutet das, ungesetzlich zu handeln, also genau genommen zum Verbrecher zu werden. Doch die Grenzen sind nicht so scharf. Es gibt rechtsfreie Räume, es gibt Schlupflöcher im Recht, die ich ausnutzen kann. Und es gibt überhaupt (noch) unterschiedliche Rechtsräume inklusive gelebtem Recht. Es gibt also “Rechtsmobilität”.
Aber die Menschenrechte? Sind die nicht absolut? Nein. Sie sind von Menschen für Menschen definierte freiwillige Selbsteinschränkungen. Dass sie zwangsläufig wirken würden, ist nicht anzunehmen. Daran zu glauben und darauf zu pochen, ist naiv. Ich möchte mich also darauf nicht verlassen. Wie die Situation in Deutschland zeigt, sind “allerheiligste Rechte” im Zweifelsfall den Mächtigen keinen Pfifferling wert.
Auf die Einhaltung von Rechten kann ich nur vertrauen — und muss mich deshalb für Enttäuschungen meines Vertrauens wappnen.
Was ist die Alternative zum Bestehen auf Rechten, zum Kampf für Rechte? Dass ich mein Schicksal selbst in die Hand nehme; ich warte nicht auf andere, sondern handle selbstständig. Wenn und wo meine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, da kann ich mich verabschieden. Sich wie eine Göre auf den Boden zu schmeißen und von anderen zu fordern, zu fordern, zu fordern endlich dem eigenen Bedürfnis ge-recht zu werden… das finde ich unwürdig.
Bitten, einladen, diskutieren, Kompromisse schließen, ja, gern — bis zu einem gewissen Grad. Aber fordern? Zu meinen, dass es ein Recht auf ein Recht gäbe, das halte ich nicht für erwachsen. Es bringt einfach nichts, sich selbst vorzumachen, dass Recht absolut sei und deshalb von jedem mit ein bisschen Verstand eingesehen werden müsste.
Recht wird von Menschen definiert; es ist das Ergebnis eines Handels. Es scheint deshalb, als würden Menschen auch Freiheit gewähren. Doch das stimmt nicht absolut. Absolut stimmt nur, dass Freiheit immer schon existiert. Ich muss diese absolute Freiheit nur nutzen. Sie gehört zu mir von Geburt an; sie ist existenziell.
Wer andere anklagt, ihn unfrei zu machen, ist vorher schon unfrei; unfrei aus sich selbst heraus. Es gibt nämlich nicht einmal den dünnen Strick beim sprichwörtlichen Elefanten, der sich dadurch angebunden fühlt, obwohl er jederzeit davonspazieren könnte, weil der Strick ihn nicht halten würde.
Menschen sind früher weitergezogen, wenn ihnen die Naturverhältnisse an einem Ort nicht mehr zugesagt haben. Sie haben ein nomadisches Leben geführt, weil es ihnen an Technologie mangelte, um negative Entwicklungen an einem Ort zu kompensieren. Sie haben sich ihrer absoluten Freiheit bedient.
Menschen ziehen auch heute weiter, wenn ihnen politische oder wirtschaftliche Verhältnisse an einem Ort nicht mehr zusagen. Wir nennen sie dann Flüchtlinge oder Migranten — und schauen sie scheel an. Aber mit welcher Begründung? Diese Menschen realisieren ihre existenzielle Freiheit, über sich selbst zu bestimmen. Für ein besseres Leben riskieren sie viel, wenn nicht alles. Sie sind mutig oder auch nur verzweifelt. Ich finde das genauso verständlich wie ursprünglich.
Woher kommt die freiwillige Selbstbegrenzung, es ihnen nicht gleich zu tun, wenn die Verhältnisse sich in der 1. Welt, gar im Wirtschaftswunder- und Exportweltmeisterland Deutschland drastisch ändern. Woher die unendliche Hoffnung, dass die Abwärtsspirale dort schon bald aufhören wird, sich zu drehen? Woher das Vertrauen, dass andere schon für Besserung sorgen werden? Woher die Ruhe, alles mit sich geschehen zu lassen von Rentendesaster bis Impfzwang? “Das Recht wird es schon richten!” scheint mir eine kindliche Hoffnung, die bekanntlich zuletzt stirbt, sich deshalb ja aber nicht erfüllt.
Nein, Recht ist kein Naturgesetz. Deshalb ist jeder stets frei, sich einem Recht, das ihm nicht gefällt, zu entziehen. Ich muss nicht auf ein Ende der Impfdebatte in meinem Sinne warten; ich kann einfach aufstehen und gehen. Ich muss auch nicht darauf warten, dass die Schulen in Deutschland endlich besser werden; ich kann aufstehen und gehen.
Die Welt ist immer noch groß. Immer noch gibt es eine Vielfalt von Rechtsräumen, Kulturen, Lebensformen. Wer mag, kann immer noch auf Abstand gehen zu Rechtsverhältnissen, die ihm nicht taugen.
Wer bleibt, trifft eine Güterabwägung. Auch das ist eine freie Entscheidung. Daraus leitet sich aber nicht das Recht auf Forderung an andere ab, sich seinen Bedürfnissen anzupassen. Wer in unangenehmen Verhältnissen bleibt, hat deshalb kein spezielles Recht. Der empörte Ausruf “Du beschränkst meine Freiheit!” ist einer aus selbstverschuldeter Hilflosigkeit.
Recht ist kein Naturgesetz. Aber die Freiheit ist eines. Sie ist existenziell, sie gehört zum Menschen. Dass das Angst machen kann, steht auf einem anderen Blatt.