Wenn ich morgens die Augen aufschlage, sehe ich den weißen Gipfel des Todorka. Das ist unser Hausberg in Bansko, Bulgarien, wohin wir vor zwei Jahren ausgewandert sind.
Nicht Corona hat uns aus Deutschland vertrieben. “Fluchtgründe” gab es auch vorher schon genügend andere. Insgesamt waren wir wohl drei Jahre auf der Suche nach einem neuen Zuhause jenseits der Begrenzungen von Deutschland. Seit Corona waren wir aber natürlich doppelt froh, nicht mehr in Deutschland zu sein.
Auf den Weg gemacht hatten wir uns aus einer “Sachlage” heraus. Wir fühlten uns durch Regeln und Rechtsunsicherheiten in Bezug auf unsere Selbstständigkeit in Deutschland nicht mehr wohl. In Bulgarien haben wir in dieser Hinsicht unser Ziel erreicht.
Was wir aber nicht so deutlich gesehen hatten, quasi auch nicht sehen konnten, das war “die Matrix”, aus der wir dadurch ebenfalls ausgetreten sind. Unbewusst haben wir sozusagen eine Rote Pille geschluckt.
Worte, die für mich die Matrix u.a. umreißen sind Leistungsgesellschaft und Konsumgesellschaft.
In Deutschland waren wir eingebettet in diese Gesellschaft. Sie war das Wasser für uns Fische. In Hamburg zu leben bedeutete, sich dem im Grunde nicht entziehen zu können.
Wir waren gezwungen zu leisten, weil wir gezwungen waren zu konsumieren.
In Hamburg das Haus zu verlassen bedeutet, konsumieren zu müssen. Natürlich kann ich auch einfach nur herumwandern, doch das macht in der Stadt nur begrenzt Spaß. Natur und Ruhe, Plätze zum Verweilen sind rar. Früher oder später läuft es darauf hinaus, ein Geschäft oder einen Gastronomiebetrieb zu betreten. Verabredungen mit Freunden werfen “ganz natürlich” die Frage auf, “Wo wollen wir denn hingehen?”, womit gemeint ist, “Wo wollen wir etwas gegen Geld verzehren?”
Die Stadt ist eine Konsummaschine: Sie produziert Konsumenten.
Wo der Menschen noch nicht konsumiert, da wird er ermuntert, es zu tun. Werbung - Konsumpropaganda - hängt, klebt, blinkt überall. Jetzt Vapen ausprobieren, morgen ins Kino gehen, nächstes Jahr ins Konzert pilgern… Wer jetzt noch nicht konsumiert, sollte sich zumindest schonmal einen Plan für den zukünftigen Konsum machen.
Das kostet natürlich alles Geld. Viel Geld. Deshalb muss man zusehen, wo man Leistung mit Geld bezahlt bekommt.
Von Bansko aus betrachtet kann ich nur sagen: Wahnsinn! Ein Hamsterrad-Wahnsinn.
Und ohne es so richtig geahnt zu haben, sind wir daraus nun befreit.
Wir haben nichts mehr: keine Werbung, keine Konsumangebote, keinen Leistungszwang. Stattdessen haben wir diesen Blick aus unserem Schlafzimmer.
Das ist uns erst mit der Zeit klar geworden. Irgendetwas war zunächst nur anders. Irgendein dumpfer Druck oder ein Grundrauschen war weg; es fehlten die ständigen Ansprüche an uns, denen wir uns in Hamburg ausgesetzt gefühlt hatten.
Zu bemerken, was fehlt, dauert manchmal eben länger, als zu bemerken, was da ist.
Und was ist da? Natur, Berge, Stille, Weite.
Bansko ist ein Touristenort, deshalb gibt es hier auch viele Restaurants. Doch die sind für uns nicht reizvoll. Hier gibt es nicht ständig eine neue Köstlichkeit, die unsere Aufmerksamkeit erheischen will.
Wir kochen jeden Tag selbst für uns. Dafür kaufen wir auf dem Bauernmarkt und auch mal im Supermarkt ein. Das sind unsere hauptsächlichen Ausgaben.
Unsere Ausgaben pro Monat? Inklusive Miete sind wir bei vielleicht 1500€ für 2 Personen. Das ist alles - und wir vermissen nichts.
Wenn wir Stadt wollen, können wir nach Sofia oder Plovdiv fahren. Dort gibt es vom Einkaufszentrum über die Oper bis zum Gourmetrestaurant alles. Den Drang verspüren wir jedoch selten. Und jedes Mal sind wir froh, wenn wir aus dem Trubel wieder raus sind. Nein, nicht Trubel, sondern aus den Forderungen, die dort jedes Plakat, jeder Laden an uns stellt. Überall springen uns “Kauf mich!” Signale in die Augen.
In Bansko gibt es all das nicht. Konsum ist nur sehr begrenzt möglich oder attraktiv. Deshalb müssen wir auch nicht mehr leisten. Leistung ist hier Hobby denn Notwendigkeit.
Das zu verstehen und dann wirklich zu fühlen, hat eine Zeit gebraucht. Immer wieder haben wir auch mal einen Rückfall. Reflexartig meinen wir, leisten zu müssen, wenn uns eine Kundenanfrage erreicht. Dann müssen wir einen Moment innehalten und uns besinnen: Es gibt keinen Leistungszwang mehr!
Das ist eine Freiheit, die wir beim Aufbruch von Deutschland weg nicht in dem Ausmaß auf dem Zettel hatten. Erst nach einer Weile hier auf dem Lande im fernen Land haben wir so richtig bemerkt, dass es sie überhaupt gibt. Oder umgekehrt: dass wir in Hamburg im Grunde unfrei waren.
Corona hat viele Unfreiheiten mit sich gebracht. Das ist schrecklich! Doch das Feuerwerk der Maßnahmen sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass zunächst einmal wir selbst es sind, die wir uns täglich für Unfreiheit entscheiden. Wir schnüren uns selbst ein. Jeder Wunsch, der über das unmittelbar Nötige hinausgeht, stellt eine Forderung nach Leistung dar, die Voraussetzungen für seine Erfüllung zu schaffen: In der Konsumgesellschaft bedeutet das, Geld zu verdienen.
Bei der vorherrschenden abhängigen Beschäftigung stellt sich deshalb die Frage: Von wem sind die Beschäftigten abhängig? Vom Arbeitgeber? Oder nicht vielleicht viel grundlegender und subtiler zuerst von sich selbst, von der Erfüllung ihrer Wünsche, ohne die sie keinen Frieden finden?
#gesellschaft #spiritualität #corona
Was für ein brillanter Text! 👌