Selbstbetrug offenkundig
Die Deutschen haben sich nicht verändert. Ich glaube nicht mehr, dass sie wirklich andere geworden sind in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. All das feierliche Beteuern, das dürfe nie wieder geschehen und vom deutschen Boden aus würde nie wieder ein Krieg ausgehen: ein einziger Selbstbetrug.
Je pathetischer die Distanzierung, je lautstärker der Aufruf zum Kampf gegen Rechts, desto größer auch die Leugnung, dass die Grundgesinnung eben doch nicht so einfach überwunden werden kann. Und wie auch? Die Deutschen nach dem 3. Reich waren dieselben Deutschen, die im 3. Reich geschwiegen haben, mitgelaufen sind und mit angepackt haben. Und nach dem Fall der Mauer waren es dieselben Deutschen, die in der DDR geschwiegen haben, mitgelaufen sind und mit angepackt haben.
Es gab keine Reinigung. Niemand hat aus Zerknirschung gebeichtet, niemand hat um Buße gebeten. Keine echte Reue nirgends. Betroffenheit, Unglauben, Scham, auch Schuldgefühle… Aber wo war die Reue? Wo war der Griff an die eigene Brust in Verzweiflung darüber, dass man irgendwie doch mit verantwortlich war?
Ich meine das gar nicht verurteilend. Das Wegducken nach dem Fall der Totalitarismen ist genauso menschlich wie Zusehen und Gehorsam im Totalitarismus. Nur dürfen wir uns eben nicht vormachen, dass mit einer Auschwitz-Gedenkstätte und einer Verteufelung des Nationalsozialismus in Schule und Medien und Politik sich die “Volksseele” verändert hätte. Das deutsche Volk ist durch keine Therapie gegangen; es hat nicht wirklich aufgearbeitet.
Ja, es hat sich bemüht, irgendwie etwas besser zu machen. Dabei hat es sich vor allem geschämt. Deshalb hat es sich auch untergeordnet unter die imperiale Siegermacht. Wieder dazu zu gehören war ihm wichtiger, als eine gesunde Identität zu entwickeln. Alles ganz verständlich — nur eben keine Heilung dessen, was schon vor dem 3. Reich verstört war.
Und so ist es für mich kein Wunder, dass das Land sich in der Pandemie und in der Ukraine-Krise so zeigt, wie es sich zeigt. Nein, ich wundere mich nicht mehr. Es kostet mich etwas Überwindung, denn irgendwie hatte ich schon etwas auf das Deutschland gehalten, in dem ich aufgewachsen bin. Aber ich muss einsehen, dass auch ich der Selbsttäuschung aufgesessen bin.
Es hat nichts genutzt. Die Deutschen 2022 unterscheiden sich charakterlich nicht von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, die das 3. Reich ermöglicht und mitgetragen haben. Der andere wird nicht gelassen, wie er ist: er muss zurechtgewiesen und bekehrt werden. Frieden ist nicht eingekehrt in die Herzen der Deutschen: Waffen werden exportiert, Krieg wird unterstützt, ferne Gegner werden ins Unmenschliche verzerrt.
Wenn ich es richtig überlege, war das sogar der Modus all der Jahre nach dem Krieg. Die Deutschen, die im 3. Reich auf die Verteufelung der Juden und die Verherrlichung des eigenen Volkes gepolt waren, konnten nach dem Nationalsozialismus in ihrer extremen Grundhaltung verharren — nur das Ziel des Hasses wurde verändert. Für die größere Zahl Deutscher war fortan der Teufel im Faschismus und die Herrlichkeit in den kapitalistischen USA; für die kleinere Zahl war der Teufel im Faschismus und die Herrlichkeit in der kommunistischen Sowjetunion. Die Energie des deutschen Willens zum Rechthaben war nicht integriert und entschärft, sondern nur neu gebunden.
Wahrscheinlich war auch nichts anderes möglich. Das war das kleinste Übel. Nur wurde diese Neuausrichtung missverstanden als Bewältigung, geradezu eine Neuerfindung. Das war ein Fehlschluss.
Deutschland wurde weder im Westen noch im Osten “exorziert”. Wenn im Deutschland des 3. Reiches das Böse gewütet hatte, dann war das nicht vernichtet, ausgerottet oder auch nur vertrieben. Es war lediglich gebannt. Gebannt wie ein Geist in einer Flasche — wartend auf eine Gelegenheit.
Und die bietet sich nun. Schweigen, Mitlaufen, Mitmachen sind wieder gefragt.
Die Erschütterungen der Welt haben der Flasche Risse zugefügt. Der verbannte deutsche Geist beginnt zu entweichen. Er sucht sich neue Teufel und neue Herrlichkeit: “Wem soll ich dienen? Wo ist das Gute? Wer gehört ausgemerzt?” Dabei blickt er — das macht ihn so deutsch — nach oben. Der deutsche Geist will klare Führung.
Skepsis Regierungen gegenüber ist seine Sache nicht. Er schätzt das Individuum in seinem Freiheitsdrang nicht. Gleichschritt — lock step — ist seine bevorzugte Fortbewegungsform.
Der deutsche Bürger schaut auf seine Regierung und fühlt sich allerorten als ihr verlängerter Arm. Und die deutsche Regierung schaut auf den imperialen Wohltäter im Westen, dessen Wille geschehen soll.
Deutschland ist nicht nur immer noch ein besetztes Land, es ist ein bessessenes.
An der Oberfläche scheint es modern und weltoffen. Doch das ist nur der immer mühsamer aufrecht erhaltene Schein. Hinter der Fassade rottet das Land schon die ganze Zeit. Dafür ist weniger die AfD ein Symptom, sondern vielmehr die zunehmende Diskursverengung, die wuchernde Bürokratie, die Fürsorgeerwartung und -lieferung und der Entwicklungsstau in so vielen Bereichen.
Neuerdings außerdem der Zwang zur Gesinnungsdemonstration: Wer keine Impfpflaster präsentiert oder blau-gelb flaggt, ist schon suspekt. Die Maske nicht 100% korrekt getragen, wird mit Zurechtweisungen durch selbsternannte Regelwächter geahndet. Der Deutsche will vielleicht nicht rechts sein, in jedem Fall will er jedoch klarstellen, wie sehr er im Recht ist.
Das jedoch war eines der Kennzeichen des 3. Reiches wie der DDR: die Klarheit, was recht und richtig ist. Da hatte der Deutsche einen Tunnel, in dem er nicht irre gehen konnte. Einfach nur voran ins Dunkel.
Solche Zeiten sind nun wieder angebrochen. Der deutsche Geist ist in einen neuen Tunnel entlassen. Er fühlt sich endlich wieder heimisch. Großes erwartet ihn darin!