Solidarität: Was ist das?
Gedanken zum Weihnachtsfest: Was ist das eigentlich “Solidarität”? Sie wird ja nun von Mitbürgern wie Politik beschworen: Geforderte Solidarität. Solidarität soll Pflicht sein.
Solidarität (von lateinisch solidus „gediegen, echt, fest“) der solidarisch bezeichnet eine zumeist in einem ethischpolitischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit – und Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemeinsame Werte aus (siehe auch Solidaritätsprinzip). Der Gegenbegriff zur Solidarität ist die Konkurrenz.
Aha, Solidarität ist der Gegenbegriff zu Konkurrenz. Da wundere ich mich nicht, dass sie jetzt so hoch auf der Wunschliste steht. Die Gesellschaft ist schon lange zu einer geworden, in der es vor allem um Konkurrenz zu gehen scheint.
Bewerber konkurrieren mit anderen und Computern um Stellen
Bettler konkurrieren mit NGOs um Spenden
Unternehmen konkurrieren untereinander um Kunden
Politiker konkurrieren untereinander um Stimmen
Angestellte konkurrieren untereinander und mit Dienstleistern um Posten
Kinder konkurrieren mit Social Media um die Aufmerksamkeit von Eltern
Autofahrer konkurrieren mit anderen und mit Radfahrern um Parkplätze
usw. usf.
Und nun auch noch: Patienten - oder solche, die es werden wollen - konkurrieren um Krankenhausbetten.
Dass diese allgegenwärtige Konkurrenz, dass dieser Kampf müde macht, kann ich verstehen. Jeder ist dabei auf sich selbst gestellt, also einsam. Hilfe ist nicht in Sicht. Wer wünscht sich da nicht, dass es endlich mal damit vorbei wäre. Weg mit Konkurrenz (wo sie mühsam ist), her mit der Solidarität!
Ja, das finde ich sehr verständlich.
Dennoch ringe ich noch mit
Haltung der Verbundenheit mit – und Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer.
Warum sollte denn Verbundenheit vorhanden sein? Worin konkret zeigt sich Verbundenheit? Wann ist sie nötig erscheinen? Gibt es eine Pflicht zur Solidarität?
Mir scheint, dass Solidarität eine Sache von Schwachen ist, Einzelnen oder Gruppen. Schwach ist, wer aus eigener Kraft ein Ziel nicht erreichen kann. Schwäche ist gekennzeichnet durch einen Mangel an Freiheitsgraden.
Solidarität besteht dann darin, dass Starke Schwachen helfen. Wer mehr Freiheitsgrade hat, setzt die ein, um ihren Mangel bei anderen zu kompensieren.
Solidarität kann also nur herrschen, wo es ein Kraftgefälle gibt: hier die Schwachen, dort die Starken. Sie ist ein Verhalten zwischen unterschiedlich Kräftigen. Innerhalb einer Gemeinschaft von gleich schwachen ist Solidarität kein Thema. Da mag man zusammenhalten, doch nicht aus Solidarität. Der eine Arme solidarisiert sich nicht mit dem anderen Armen; sie teilen vielmehr Interessen und Mangel an Freiheitsgraden. Das ist z.B. der Fall nach einer Katastrophe: Wo alle in selber Weise unter deren Folgen leiden, stehen sie nicht speziell solidarisch zusammen, sondern unterstützen sich schlicht gegenseitig; jeder weiß, dass er nur mit Hilfe anderer aus dieser Situation kommt.
Wer sich als Starker mit Schwachen solidarisiert, verzichtet auf Nutzung seiner Kraft zum eigenen Vorteil. Er stellt sie in den Dienst der Schwachen. Dieser Verzicht ist freiwillig, denn die Schwachen haben ja gerade keine Kraft, eine Forderung durchzusetzen. Schwache können nur um Solidarität bitten.
Eine typische Gemeinschaft der Solidarität, eine Solidargemeinschaft, ist die der Mitglieder einer Rentenversicherung: in ihr sind die Rentenzahler die Starken und die Rentner die Schwachen. Erstere verzichten auf einen Teil ihres Geldes zugunsten Letzterer - in der Hoffnung, dass zukünftig, wenn sie selbst Rentner sind, es andere ihnen gleichtun werden.
Die Solidargemeinschaft der Rentenversicherungsmitglieder gründet also nicht auf Mitgefühl, sondern auf Eigennutz. Jedes Mitglied versteht, dass es Unterstützung nur empfangen kann, wenn es bereit ist, vorher Unterstützung zu leisten.
Eigennutz scheint mir die Grundlage von Solidarität zu sein. Wo der Starke nicht erkennen kann, wie ihm früher oder später direkt oder indirekt seine Unterstützung von Schwachen hilft, wird sich keine Solidarität einstellen.
Bei der Solidarität in der Rentenversicherungsgemeinschaft liegt der spätere Nutzen klar auf der Hand. Wenn sich jedoch z.B. Angestellte mit Arbeitslosen solidarisieren oder Menschen außerhalb eines Katastrophengebietes mit denen darin, ist der Nutzen nicht so klar.
Besteht eine Hoffnung auf Reziprozität? Oder wird schlicht Mitgefühl befriedigt?
Solidarität formt eine Gemeinschaft zwischen Schwachen und Starken. Es entsteht ein Ganzes bzw. ein Ganzes wird gestärkt. Solidarität ist mithin eine Reaktion zur Erhaltung von etwas Größerem. Die Teile, die Einzelnen sehen von sich ab; sie widmen sich anderen - allerdings nur scheinbar um deretwillen. Es geht vielmehr - wenn nicht um Reziprozität - um den Erhalt von Ressourcen/Investitionen. Einigen Schwachen zu helfen ist aufs Ganze betrachtet günstiger, als den Aufwand zu sparen und ihr Potenzial zu verlieren.
In der Solidarität ist also entweder der Starke eigennützig oder das Ganze, das Schwache und Starke umfasst.
Was bedeutet das für die Forderung nach Solidarität bei der COVID-19 Impfung? Die Ungeimpften sollen sich solidarisch zeigen, wahlweise mit “den Schwächsten” - d.h. denen, die sich nicht impfen lassen können - oder auch mit Geimpften, die sich mindestens schwach fühlen, wenn es um andere Erkrankungen geht, für die sich eventuell ein Intensivstationsbett brauchen könnten.
Ich denke, es kann schon aus dem Grund nicht um Solidarität dabei gehen, weil die Schwachen die Solidarität einfordern. Sie können keine Ablehnung ertragen. Denn wenn die Ungeimpften sich nicht solidarisch zeigen, dann wird man dafür sorgen, dass sie gezwungen werden. Das widerspricht der für Solidarität notwendigen Freiwilligkeit
Aber warum kommt es denn nicht zu massenhaften Solidaritätsbekundungen? Warum zeigen sich die Ungeimpften so unsolidarisch? Weil sie sich nicht als stark empfinden und die Geimpften als schwach. Für sie steht die Welt geradezu Kopf: Die Ungeimpften empfinden sich als schwach, als eingeschränkt in ihren Freiheitsrechten. Warum sollten sie sich angesichts dessen weiter einschränken für Geimpfte und schwammig definierte “Schwächste”?
Dazu kommt, dass den Ungeimpften der Eigennutz fehlt. Sie bekommen nichts, was ihnen etwas wert wäre; sie vermuten vielmehr, dass ihnen noch mehr genommen werden könnte als ein bisschen Zeitaufwand, nämlich die Gesundheit. Ungeimpfte fürchten sich nicht vor einer gesundheitlichen Einschränkung durch das Virus, sondern durch die Impfung, also den vermeintlich solidarischen Akt. Wie weit diese Einschränkung gehen könnte, ist ihnen zu ungewiss. Sie scheuen nicht vielleicht einen Tag Kopf- oder Gliederschmerzen, sondern länger andauernde und schwerwiegendere Nebenwirkungen.
Die Waage der Solidarität ist also nicht im Gleichgewicht. Solidarisches Handeln bleibt aus. Das halte ich für sehr verständlich. Die Anrufung der Solidarität kann für Impffreunde also nicht zum Erfolg führen. Niemand wird sich aus Solidarität impfen lassen; wenn Ungeimpfte “umfallen”, dann aus anderen Gründen, bei denen sie einen Eigennutz sehen. Besonders beliebt: die Hoffnung, dass durch die eigene Impfung die Rückerlangung früherer Freiheiten einen Schritt näher rückt, dass also die Corona-Pandemie schneller beendet wird.
#gesellschaft #corona