Und was ist mit Whataboutism?
Es ist heute schwer, eine sinnige Diskussion über ein polarisierendes Thema wie “AfD-Gefahr” oder “Ukrainekrieg” oder “Corona” oder “Klimawandel” zu führen. Die Angst sitzt oft tief und engt das Denken ein. Das Gefühl hat schon das Steuer übernommen und hält es fest in Richtung auf alternativlose Lösungen. Skepsis oder gar Gegenargumente werden als Störungen der Selbstberuhigung empfunden, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Ein seit einigen Jahren im Mainstream angekommenes rhetorisches Mittel dafür ist der Vorwurf des Whataboutitsm.
Hier ein Beispiel aus einer Diskussion rund um einen meiner LinkedIn-Posts:
Leider hat der Kommentator nicht näher bezeichnet, was ihn zu diesem Urteil veranlasst hat. Er fühlte sich durch einen meiner Kommentare jedoch getriggert und konnte sich nur mit dem Vorwurf des Whataboutisms in Sicherheit bringen.
Denn das ist es, wenn dieser Begriff ins Spiel gebracht wird: eine Flucht. Die konkrete Diskussionsebene wird verlassen, die Meta-Ebene wird betreten. Man fühlt sich der Kniffe eristischer Dialektik kundig und pariert einen “Angriff”, indem man das zur Schau stellt. So wird das Störende auf Abstand gehalten.
Hier zunächst ein Beispiel für Whataboutism, das ich dieser Liste entlehne:
Trainer: Dein Spiel war nicht gut. Du hast Möglichkeiten übersehen, den Ball an andere abzugeben.
Spieler: Aber was ist mit dem Torwart? Seine Fehleinschätzungen haben uns zwei Tore gekostet.
Der Spieler geht nicht auf die Kritik des Trainers ein, sondern verweist auf einen Dritten, der seiner Meinung nach auch zu kritisieren wäre: “Was ist mit dem Torwart?” (“What about the goalie?”)
Whataboutism ist eine Reaktion auf Kritik. Um “sich den Schuh nicht anziehen zu müssen”, verweist der Kritisierte auf einen anderen kritikwürdigen Umstand. Ein Vorwurf wird mit einem Gegenvorwurf beantwortet.
“Whataboutism or whataboutery (as in ‘what about…?’) is a pejorative for the strategy of responding to an accusation with a counter-accusation instead of a defense of the original accusation.”, Wikipedia
Statt die Kritik aufzunehmen, zu analysieren und ggf. zu widerlegen, lässt man sie quasi ungehört abprallen und wird selbst zum Kritiker.
Alternative Reaktionen des Spielers im obigen Beispiel hätten sein können:
“Kannst du bitte die Situationen näher beschreiben, in denen ich nicht umsichtig gespielt habe?”
“Ich glaube, ich weiß, welche Situationen du meinst. Aber bitte verstehe, für mich auf dem Spielfeld hat es anders ausgesehen. Zum Beispiel…”
Sicher ist eine abwehrende Reaktion mit “What about…” nicht hilfreich, um eine Sachfrage zu klären. Diesen Kniff zu bemerken und nicht darauf reinzufallen, kann ein Gespräch produktiv halten. Das hat allerdings zwei Voraussetzungen:
Die korrekte Erkennung von Whataboutism, die über die Kenntnis dieses Buzzwords hinaus geht.
Eine angemessene Reaktion auf einen korrekt erkannten Whataboutism.
Zuerst zur Reaktion: Ich denke, eines ist kontraproduktiv, wenn Whataboutism tatsächlich vorliegt. Seinen Anwender darauf hinzuweisen und auf die Meta-Ebene zu gehen, das Gespräch also von der Sachebene zu heben, führt nach meiner Erfahrung in eine Eskalationsspirale. Der Grund ist einfach: Wo schon mit Whataboutism auf eine Kritik reagiert wurde, stellt die Etikettierung der Reaktion als Whataboutism einen weiteren Vorwurf dar. Das schluckt ein Kritisierter doppelt schwer — und wird kaum anders können, als mit weiteren Techniken zu parieren, ohne dass es in der Sache vorangehen würde. Oder wer hätte von einer Diskussion gehört, in der auf den Vorwurf des Whataboutisms mit “Entschuldigung, das wollte ich nicht. Lass mich auf deine Kritik direkter eingehen.” reagiert wurde.
Ich denke, eine Reaktion, die den Whataboutism schlicht ignoriert und nochmal die ursprüngliche Kritik vorträgt, ist produktiver. Am Beispiel des obigen Gesprächs:
Trainer: Dein Spiel war nicht gut…
Spieler: Aber was ist mit dem Torwart?…
Trainer: Mit dem Torwart spreche ich auch noch. Lass uns im Moment bitte auf dein Spiel konzentrieren.
Hier lässt der Trainer sich nicht in die Ablenkung des Spielers hineinziehen. Weder kritisiert er ihn dafür (“Es ist nicht deine Aufgabe, den Torwart zu kritisieren.”), noch geht er darauf ein und fragt nach (“Was meinst du? Was hätte der Torwart denn besser machen können?”), noch kritisiert er auf der Meta-Ebene (“Lenk nicht ab. Das ist Whataboutism.”).
Für einen konstruktiven Austausch braucht es vor allem jedoch eine korrekte Erkennung von Whataboutism. Er kann tatsächlich vorliegen und eine angemessene Reaktion verlangen. Es kann aber auch sein, dass er nicht vorliegt.
Leider scheint mir das in den Social Media Diskussionen häufiger der Fall zu sein: Der kontraproduktive Vorwurf eines Whataboutism wird auch noch ungerechtfertigt erhoben. Dass die Stimmung damit doppelt schnell in den Keller geht, sollte nicht verwundern.
Wann also liegt ein echter Whataboutism vor?
Ausgangspunkt ist immer eine Kritik, denke ich. Ein Kritiker benennt einen kritikwürdigen Zustand.
Kritiker: Zustand A ist schlecht.
Darauf reagiert ein anderer, der Opponent, der Kritisierter sein kann oder einfach nur eine andere Meinung vertritt mit dem Verweis auf einen anderen Zustand:
Opponent: Aber was ist mit B? B ist ist auch schlecht.
Verräterisch für den Whataboutism ist dabei, das es keinen Zusammenhang, allemal keinen kausalen Zusammenhang zwischen A und B gibt. Und es wird auch nicht darauf eingegangen, wie A verbessert werden könnte oder was dafür die Ursachen sein könnten. Oder es wird auch nicht nachgefragt, ob man A richtig verstanden habe oder wie es zum Urteil über A kommen kann.
Abgesehen davon, dass B ebenfalls kritikwürdig ist und ganz grob zum diskutierten Themengebiet gehört, gibt es keinen Zusammenhang zwischen A und B. Wer mit “What about…” antwortet, will sich auch keine Mühe geben, einen Zusammenhang jenseits der Oberflächlichen herzustellen. Das will er dem verblüfften Gegner überlassen, um ihn vom Argumentationskurs abzubringen.
Noch ein Beispiel:
Vater: Deine Noten in der Schule sind schlecht. So wird es nichts mit deinem Wunschberuf.
Tochter: Und was ist mit deinen Schulnoten? Du warst auch nie gut und hast es trotzdem geschafft.
So weit, so einfach. Doch wer sich argumentativ schwach fühlt, wer unter Stress steht, kann auch leicht einen Whataboutism erahnen, wo keiner ist.
Vater: Deine Noten in der Schule sind schlecht. So wird es nichts mit deinem Wunschberuf.
Tochter: Und was ist mit meinen persönlichen Qualitäten? Zählen die nicht?
Vater: Das ist Whataboutism. Sei nicht altklug und konzentrier’ dich auf deine Noten.
In diesem Beispiel hat der Vater fälschlicherweise einen Whataboutism erkannt und auch noch kontraproduktiv angeprangert. Er hat sich wohl durch “Und was ist mit…” auf die falsche Fährte führen lassen.
Merke: Nicht alles, was mit “Was ist mit…” (“What about…”) beginnt, ist auch ein Whataboutism.
Warum liegt hier kein Whataboutism vor? Weil die Tochter versucht, einen alternativen Kausalzusammenhang herzustellen. Sie weist das Argument, das hinter des Vaters Kritik steckt, nicht einfach zurück, sondern nimmt es ernst - bietet aber eine alternative Erklärung an.
Für den Vater gibt es einen Kausalzusammenhang: Noten → Berufswahl. Schulnoten haben einen Einfluss darauf, welchen Beruf die Tochter später wählen kann. Da er das Beste für seine Tochter will, hält er gute Noten für eine wichtige Voraussetzung.
Auf diesen Kausalzusammenhang hebt die Replik der Tochter ab. Sie stimmt implizit zu, dass die Berufswahl eine Voraussetzung hat. Allerdings stimmt sie nicht mit dem Vater darin überein, dass dazu Schulnoten in der von ihm angenommenen Weise gehören. Sie sieht einen nicht unerheblichen Einfluss (auch) woanders: persönliche Qualitäten → Berufswahl.
Entweder versteht der Vater das nicht oder er lässt sich durch die Wortwahl triggern. In jedem Fall ist sein Vorwurf des Whataboutism ungerechtfertigt.
Klüger wäre es natürlich von der Tochter, zuerst den Kausalzusammenhang des Vaters herauszuarbeiten, um dann eine Alternative anzubieten, z.B.
Tochter: Ich verstehe, dass du Schulnoten für wichtig für meine Berufswahl hältst. Doch bitte bedenke, dass in meinem Wunschberuf immer viele Menschen gesucht werden und es in seiner Ausübung vor allem auf persönliche Qualitäten ankommt. Ich glaube, bei denen bin ich auf einem sehr guten Weg. Jedenfalls lobst du mich immer dafür, wie freundlich, hilfsbereit und umsichtig ich bin.
Ob der Vater derselben Meinung in Bezug auf die Stärke des Zusammenhangs zwischen persönlichen Qualitäten vs. Schulnoten und Berufswahl ist, hat für den ungerechtfertigten Vorwurf von Whataboutism übrigens keine Bedeutung.
Noch ein Beispiel für einen inkorrekten Vorwurf des Whataboutism, weil es so verführerisch ist, ihn zur Ablenkung von Gegenwind zu beklagen:
Karoline: Der Krieg gegen die Ukraine lässt sich am schnellsten beenden, wenn Russland mit harten Sanktionen belegt wird.
Friederike: Und was ist mit den Menschen in Afrika, deren Nahrungsmittelversorgung dadurch gefährdet wird?
Karoline: Das ist Whataboutism! Russland hat einen völkerechtswidrigen Krieg begonnen und muss dafür in die Schranken verwiesen werden. Mit Waffen und mit Sanktionen.
Auch hier ist die Diagnose Whataboutism falsch, weil eine Verbindung übersehen wird. Worin besteht die? In der Zahl der Opfer. Karoline impliziert, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland zu vielen Opfern führt und Sanktionen deren Zahl niedriger halten sollen. Friederike versteht das und hält dagegen, dass aber auch Sanktionen Opfer nach sich ziehen können — nur vielleicht an anderen Orten der Welt, z.B. Afrika. Hat Karoline bedacht, dass Sanktionen vielleicht 1000 Menschenleben in der Ukraine retten, dafür aber 2000 in Afrika kosten? Sind afrikanische Leben weniger wert als ukrainische?
Wieder hätte der Einwand klüger formuliert werden können. Der Zusammenhang, den Karoline impliziert, hätte von Friederike herausgearbeitet und an ihre Sicht angebunden werden können. Dennoch: Whataboutism liegt nicht vor.
Und noch ein anderes Beispiel aus dem selben Themengebiet:
Karoline: Der Krieg gegen die Ukraine lässt sich am schnellsten beenden, wenn Russland mit harten Sanktionen belegt wird.
Susanne: Und was ist mit den Sanktionen gegen den Iran? Die haben auch bei weitem nicht den gewünschten Erfolg gehabt.
Karoline: Das ist Whataboutism! Es geht hier um Russland und nicht den Iran.
Wieder ist Karoline der Floskel “Und was ist mit…” auf den Leim gegangen. Nicht hinter jedem “Was ist mit…” steckt aber ein Whataboutism. Hier ist das Fehlurteil sogar noch offensichtlicher: Susanne sagt ausdrücklich, warum sie den Iran als Alternative heranzieht. Ihrer Ansicht nach, führen Sanktionen einfach nicht so verlässlich zum Ziel, wie Karoline es suggeriert. Als Beleg für dieses Argument führt sie die Sanktionen gegen den Iran an.
Es ist also eine knifflige Sache mit dem Whataboutism. Ihn zu erkennen, ist verführerisch - doch das ist nicht so einfach, wie es scheint. Man muss schon genau hinhören. Aber wer tut das in der Hitze einer Diskussion?
Und selbst wenn man ihn korrekt erkannt hat, stellt sich sich die Frage, wie das genutzt werden kann. Es ist verführerisch, der anderen Partei das “um die Ohren zu hauen”. Doch was bewirkt das? Ich sehe nicht, dass daraus etwas Konstruktives erwachsen kann.
Insofern ist meine Antwort auf “Und was ist mit Whataboutism?”: Nicht überbewerten und einen kühlen Kopf behalten.
Das gilt natürlich für beide Seiten. Die, die Whataboutism meint vorwerfen zu müssen, sollte sich das zweimal überlegen. Und die, der er vorgeworfen wird, sollte sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen.
PS: Leider ist meine Vermutung, dass sich Whataboutism als “Kampfbegriff” irgendwann in die öffentliche Diskussion in den letzten Jahren eingeschlichen hat. Er wird als scharfes Messer benutzt, um verstörende Äußerungen anderer abzuschneiden. Damit liegt quasi ein “Whataboutism-ism” vor. Auf ein Gegenargument zur eigenen Kritik wird mit dem Vorwurf des Whataboutism reagiert. Das lässt den Kritiker gebildet dastehen und zwingt den Gegner auf eine Meta-Ebene, auf der er sich mit Abstreiten scheinbar nur tiefer verstrickt.
Ich glaube, Abrüsten tut Not. Wenn die öffentliche Diskussion wieder produktiv werden soll, gehören solche Messer in die Schublade und nicht an den Diskussionstisch.