Zwischen Menschen wird es ekelig, wenn sie sich nicht mehr als Menschen achten. Wer im anderen sich nicht mehr selbst sehen kann, sondern nur etwas Fremdes, Niederes, Abartiges, der ist schnell bereit, extrem gegenüber dem anderen zu werden. Das ist die Basis aller Kriege. Es kämpfen niemals Menschen gegeneinander, sondern Menschen gegen Teufel und Ungeziefer.
Wer auf die Sprache schaut, kann daher etwas über die Spannungen zwischen Menschen lernen. Je bereiter sie sind, sich nicht mehr auf Augenhöhe als Menschen anzusprechen, sondern den anderen herabzusetzen, desto größer das Potenzial für eine Eskalation der Spannung bis hin zum Krieg.
Die Verrohung der Sprache ist eine notwendige Vorbereitung für die Legitimation und Anwendung von Gewalt.
Dasselbe gilt für Gemeinschaften und Gesellschaften als soziale Systeme.
Die grundlegenden Herabsetzungen
In jeder Gesellschaft gibt es Spannungen, denn Unterschiede zwischen Menschen sind natürlich. Eine typische Spannung ist die zwischen unten und oben, zwischen finanziell schlechter und finanziell besser gestellten, zwischen denen mit weniger und mit mehr Macht.
Das ist unvermeidlich, normal, sogar hilfreich. Denn Spannung bedeutet auch Zug. Aus ihr kann sich etwas entwickeln. Spannung zieht Menschen nicht nur herunter, sondern auch voran. Sie strengen sich an, ihr Los zu verbessern, weil es anderen schon besser geht.
Ein gewisses Maß an Spannung durch Ungleichheit ist mithin einer Gesellschaft förderlich. Es kann als Ansporn in einem Wettbewerb verstanden werden.
Das gilt auch zwischen Gesellschaften.
Wenn die Ungleichheit und damit die Spannung jedoch wächst, dann kann die Wettbewerbsatmosphäre vergiftet werden. Aus “denen da oben” werden dann Unerreichbare. Die Mitglieder der Gesellschaft entfremden sich in der Vertikalen. Und aus der Entfremdung kann Herabsetzung werden. “Die da oben” mutieren zu Feinden; ein beliebtest Bild dafür ist das des Blutsaugers: Die an der Spitze leben auf Kosten derer an der Basis.
Auch zwischen Gesellschaften können sich die Dinge dahin entwickeln. Die Spannungen steigen - oder werden sogar geschürt -, so dass die eine Gesellschaft die andere nur noch als Feind sehen kann. Und dieser Feind darf nicht menschlich sein. Er muss verteufelt werden, um wirklich alle Maßnahmen ausschöpfen zu können. Im Kampf gegen Dämonen sind alle Mittel erlaubt.
So ist es von Alters her. Diese Herabsetzungen sind ein offensichtliches Muster. Niemand, der sie noch nicht gesehen oder gar in sich gespürt hätte.
Die perfide Herabsetzung
Weniger im Bewusstsein ist hingegen eine Spannung, die der zwischen Gesellschaften ähnelt. Das ist die Spannung zwischen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft. Auch hier gibt es Unterschiede, die zu Herabsetzungen und Eskalation führen können, obwohl die Gruppen “eigentlich” auf Augenhöhe sind. Beispiele können sein: Männer vs Frauen, Heterosexuelle vs Homosexuelle, Jung vs Alt, Arbeitslose vs Arbeitende, Einheimische vs Fremde, Gesunde vs Kranke, Christen vs Muslime. Es gibt unzählige Dimensionen zwischen Menschen, in denen sie sich von einander entfernen können. Und ist aus der Entfernung eine Entfremdung geworden, kann sich die Spannung bis zur Herabsetzung steigern.
Die anderen sind dann keine Menschen mehr, sondern Belastungen, Parasiten, Ungeziefer. Die Spannung zwischen oben und unten kann darüber aus dem Blick geraten; die Blutsauger an der Spitze scheinen dann weniger eine kollektive Gefahr, als die Entfremdeten, die eigentlich im selben Boot sitzen.
Eine solche Entwicklung ist perfide, weil sie sich instrumentalisieren lässt. Eine vampirische Gesellschaftsspitze tut sich einen Gefallen, wenn sie Spannungen zwischen Gesellschaftsgruppen schürt. Die Aufmerksamkeit derer unten wird dadurch von ihnen oben abgelenkt - zu welchem Zweck auch immer. Wer horizontal im Infight ist, hat keine Zeit, den Blick nach oben zu heben.
Die kaschierte Herabsetzung
Aber ist das denn nicht menschenverachtend, wenn die an der Spitze einer Gesellschaft ihre Macht nutzen, um in der Gesellschaft Zwietracht zu säen? Kann es das denn geben?
Selbstverständlich.
Denn die Herabsetzung verläuft auch in die andere Richtung. Nicht nur die unten setzen die oben herab, indem sie sie als Blutsauger beschimpfen. Jede Herabsetzung führt zu einer Reaktion: einer spiegelbildlichen Herabsetzung. Wer herabgesetzt wird, wer sich verächtlich behandelt fühlt, wird reflexartig ebenfalls in eine Herabsetzung verfallen.
Wer sich seiner Reaktion nicht sehr bewusst ist, wird daher allzu leicht in einen Strudel der Herabsetzung, der Diffamierung, des Hasses und schließlich der Gewalt hineingezogen.
Ein Teil der Kunst der Diplomatie besteht darin, genau dem nicht zum Opfer zu fallen - und schon gar nicht mit Herabsetzungen zu beginnen. Ist der Teufel erstmal an die Wand gemalt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich die Hölle losbricht. Herabsetzungen sind oft sich selbst erfüllende Prophezeiungen.
Natürlich gibt es auch eine herabsetzende Sichtweise derer oben auf die da unten. Ob die einer Titulierung als Blutsauger folgt oder ihr vorangeht, ist nicht wichtig. Wichtig ist, sie zu erkennen.
Wer schon Macht hat, kann sich allerdings andere Herabsetzungen erlauben. Die Bilder derer oben für die unter ihnen, müssen nicht aggressiv sein. Aggression ist Sache der Schwachen, derjenigen, die sich ohnmächtig und eingeschränkt fühlen. Sie fühlen sich gedrängt, Dämonen zu bekämpfen und Parasiten auszurotten.
Wer hingegen mächtig und frei ist, kann milder herabschauen auf die da unten. Er kann Schafe oder Idioten sehen, die geführt (und später vielleicht geschlachtet) oder in einen Laufstall gesperrt werden müssen. Allemal sieht er niemanden, der besser wüsste, was für ihn gut ist, als er an der Spitze.
Diese Herabsetzung von oben nach unten ist genauso natürlich wie die von unten nach oben. Doch sie ist bemüht, sich zu kaschieren. Es soll nicht noch mehr Aufmerksamkeit nach oben gerichtet werden; sie wäre auch jeder Bestrebung abträglich, perfide Herabsetzung zu schüren.
Die perfide geschürte Herabsetzung zwischen Gruppen ist eine Folge der herabschauenden Herabsetzung von oben. Denn wer die da unten als Schafe und Idioten sieht, scheut sich nicht, mit dieser Masse nach Belieben zu verfahren. Sie wird zum Mittel für die eigenen Zwecke.
Die Zerstörung der Gesellschaft
Herabsetzung zerstört die Gesellschaft. Sie treibt einen Keil zwischen die Menschen. Sie entfremdet. Und wo sich die Menschen fremd werden, kümmern die anderen sie nicht mehr.
Herabsetzung beginnt im Denken und zeigt sich in der Sprache. Wo die Sprache voller Herabsetzungen ist - name calling, Vorwürfe, ad hominem Attacken, Kontaktschuldsprüche, Verächtlichmachungen -, dort bereitet sich ein Krieg vor.
Herabsetzungen sind eine Folge von Enthemmung. Das Gegenüber bei aller Meinungsdifferenz mindestens als Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten, Sorgen und Nöten und Freuden zu sehen, scheint als Gebot nicht mehr bindend. Die eigene Ohnmacht bricht sich dann zumindest in verbaler Gewalt Bahn. Wer den anderen einen Teufel oder Parasiten nennt, setzt ihn herab, stellt sich über ihn, drückt ihn nieder. Zumindest für einen Moment.
Wird das zur Gewohnheit, wird das gar salonfähig… spaltet es die Gesellschaft. Und auch eine spätere Versöhnung wird nahezu unmöglich.
Solange die Spannung in einer Gesellschaft vor allem zwischen unten und oben herrscht und in einem gewissen Rahmen bleibt, ist sie zuträglich. Ein gewisser Neid derer unten und eine gewisse Arroganz derer oben mögen vor allem anspornend wirken.
Doch jenseits des bekömmlichen Maßes zerstört die vertikale Spannung die Gesellschaft. Altbekannt ist Revolte derer unten gegen die Blutsauger oben.
Doch die von oben ausgehende Herabsetzung und die zwischen Gesellschaftsgruppen auf Augenhöhe können gleichermaßen zerstörerisch wirken.
Während jedoch die horizontalen Spannungen deutlich sichtbar sind, fällt die Herabsetzung durch die oben weniger auf. Sie ist deshalb die gefährlichere. Allemal, weil viele an sie nicht glauben. Denn was nicht sein darf, kann nicht sein.
Herr Westphal wieder eine sehr gute Analyse. Können Sie nicht mal bei welt.de anfragen, ob Sie dort eine Kolumne veröffentlichen können? Dort können viele Autoren ihre Meinungsbeiträge veröffentlichen. Ich find es schade, wenn Ihre guten Gedanken so wenig Publikum finden.