Verhandeln müssen nur Unfreie
Was tue ich, wenn mir ein Produkt nicht mehr gefällt? Ich kaufe es nicht mehr. Fertig. Das gilt für Marmelade wie Würstchen wie Computer, Autos, Versicherungen, Bankkonten usw. usf. Wenn wieder ein Kauf ansteht, wähle ich ein anders Produkt. Oder falls ich ein Abo habe, kündige ich es. Ich wechsle vom einen Anbieter zum nächsten; ich ziehe um mit meinem Geld und meiner Aufmerksamkeit. Fertig.
Das ist Marktwirtschaft. So verhalten sich erwachsene Konsumenten.
Was tue ich also nicht, wenn mir ein Produkt nicht gefällt? Ich verhandle nicht. Ich zerre nicht am Anbieter.
Ok, vielleicht mache ich einen Anbieter, mit dessen Produkt ich unzufrieden bin, einmal darauf aufmerksam, das mir etwas fehlt. Warum soll ich ihn nicht informieren und eine Gelegenheit geben, das Produkt zu verbessern oder mir einen Nachlass anzubieten? Das verstehe ich noch nicht als Verhandlung.
Verhandlung setzt ein, wenn es mir schwer fällt, mich vom Produkt zu lösen. Ich scheue die Umstiegskosten; mir scheint es viel günstiger, der Anbieter passt sein Produkt mir an, als dass ich zu einem anderen wechsle. Dann liege ich ihm in den Ohren mit meinem Frust.
Dieses Verhältnis nenne ich unfrei. Wer nicht nach einer Benachrichtigung über Unzufriedenheit und einem kleinen Moment Geduld für Verbesserungen mit einem kurzen Seufzer aus Frustration und Trauer Abschied nehmen kann, ist abhängig, also unfrei.
In Unfreiheit ist Verhandlung die einzige Alternative zu Resignation, Rückzug, Hinnahme. In Unfreiheit diktiert der Anbieter mein Leben. Ich muss damit zufrieden sein, was er mir liefert. Wenn mir das nicht (mehr) gefällt, ist’s halt dumm gelaufen für mich. Dann stecke ich fest.
Mit Verhandlungen kann ich versuchen, etwas zu bewegen — aber warum sollte der Anbieter darauf eingehen? Das würde ihm Mühe machen, von der er nichts hat. Sobald er ahnt, dass ich unfrei bin, kann er sich passiv verhalten. Als Kunde komme ich ihm nicht abhanden; in Abhängigkeit fehlt mir die Mobilität, mich für einen anderen Anbieter zu entscheiden.
Auch das ist pure Marktwirtschaft.
Wie profitiere ich als Konsument also von Marktwirtschaft? Nur, indem ich mich unabhängig halte.
Das wird mir natürlich kein Anbieter verraten. Das lerne ich auch nicht in der staatlichen Schule. Darauf muss ich schon selbst kommen:
Nur in selbstverantwortlicher Unabhängigkeit kann ich die Vorteile der Marktwirtschaft genießen.
Warum das nicht in der Schule vermittelt wird? Weil der Staat, der das Schulsystem betreibt, sich selbst außerhalb jedes Marktes stellen will. Er will nicht zu einem Dienstleister unter vielen degradiert werden. Damit verlöre es die Kontrolle über die, die ihn am Leben halten: die Steuerzahler. Steuerzahler sollen nicht darüber nachdenken, dass der Staat auch nur Produkte bietet, die man bei Unzufriedenheit wechseln kann.
Deshalb vermittelt das staatliche Schulsystem nicht verlässlich die Fähigkeit zur Unabhängigkeit. Selbstverantwortung kann nicht groß geschrieben werden, weil mit ihr Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit und Mobilität einhergehen.
Stattdessen wird vermittelt, dass bei Unzufriedenheit Verhandlung der richtige Weg ist. Demonstrationen, Petition, sich engagieren und Wahlen: das sind die Mittel, die dem Bürger an die Hand gegeben werden. Denn der Bürger soll sich nicht als Kunde empfinden.
Bürger, d.h. die Bewohner einer Burg, sollen kein Interesse haben, über ein Leben jenseits der Burgmauern nachzudenken. Hinter den Mauern lauern Gefahren; dort wäre der Bürger ohne Schutz der Gemeinschaft. Nein, der Auszug aus der Burg darf keine Option sein. Deshalb wird diese formal immer noch existierende Alternative nicht erwähnt oder kleingeredet.
Des Bürgers Pflicht ist das Verweilen und — bei Unzufriedenheit — Verhandeln. Und verhandeln. Und verhandeln. Und weiter verhandeln.
Der Staat, wie jeder andere Anbieter, hält den unzufriedenen Kunden also hin. Vielleicht wird aus Kulanz auch mal ein “Preisnachlass” gewährt. Vor allem gilt es jedoch, zu beschwichtigen und hinzuhalten. Wer schon einmal unzufrieden war mit seinem Telefonanbieter, weiß, was damit gemeint ist.
Marktwirtschaft ist für Anbieter ungemütlich. Sie versuchen also ganz natürlich, sich ihr zu entziehen, wie auch immer möglich. Am einfachsten geschieht das durch eine Monopolstellung; der zweitbeste Weg ist die Einmauerung durch Bürokratie; der drittbeste Weg ist ein Produkt, das zur Ansammlung immobiler Werte motiviert. Ein paar Beispiele:
Google und Staaten haben eine Monopolstellung oder suggerieren sie zumindest. Dem Internetbenutzer und den Bürgern fällt es sehr schwer, sich ihr Leben ohne diese konkreten Anbieter vorzustellen.
Telefonanbieter und Banken machen es schwer, sie zu wechseln. Staaten sowieso: sie ziehen klare Grenzen. Was beim Verlassen eines Anbieters alles zu beachten ist… was beim neuen Anbieter alles zu beachten ist… All die Regularien, unter denen die armen Anbieter leiden und die sie zwingen, unbefriedigende Produkte anzubieten.. Ach, ach. Bürokratie ist da unausweichlich. Und die macht gar keine Freude. So wird die emotionale Hürde für einen Wechsel sehr hoch.
Auch abgesehen von formalen Hürden machen es z.B. Facebook oder Staaten jedem “Mitglied” schwer, sie zu verlassen, weil sie in ihren “Plattformen” so viele Werte angesammelt haben, die sie nicht einfach mitnehmen können. All die guten Freunde, all die geteilten Ereignisse… Die sunk cost fallacy ist ein Garant dafür, dass langjährige Mitglieder es sich sehr, sehr gut überlegen, ob sie all das wirklich hinter sich lassen wollen, nur weil sie “mal ein bisschen unzufrieden sind”. Anbieter sehen also zu, dass sich ihre Konsumenten mit/bei ihnen “verwickeln” und anhaften.
Verhandeln, Kompromisse schließen, Geduld haben: Das wird von denen, die Abhängigkeiten erzeugen wollen, als Tugenden beworben. Und ich sage nicht, dass Konsumenten keine Geduld haben und nicht auch mal einen Kompromiss eingehen sollten. Auch dem Unabhängigen macht ein Produktwechsel Mühe. Die gilt es abzuwägen gegen die Unzufriedenheit mit dem aktuellen Produkt des Anbieters.
Insgesamt halte ich Verhandeln, Kompromisse schließen und Geduld haben allerdings für überbewertet. Es sind tugendhafte Verhaltensweisen eines Narrativs, das auf Unfreiheit abzielt.
Solange der Ermunterung zum Verhandeln nicht gleichberechtigt die Motivation zur Unabhängigkeit gegenübergestellt wird, ist das System nicht wirklich freiheitsorientiert. Egal, wie es sich nennt.
Denn Verhandlung ist am Ende nur wirklich nötig für die, die unfrei, die abhängig sind. Alle anderen stehen auf und wechseln den Anbieter.