Verzeihen! Verurteilen! Vergessen?
Ist es wahr, was der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn Anfang 2021 sagte?
“Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.”
Und: Reicht es, zu verzeihen?
Ja, es ist wahr. Verzeihen ist nötig. Aber es reicht nicht.
Verzeihen
Später hat Jens Spahn präzisiert, was er unter “verzeihen” versteht:
“[Es geht] darum, dass wir uns untereinander zugestehen, sich mal geirrt zu haben […]”, Spahn: "In dieser Pandemie gibt es keine absoluten Wahrheiten."
Ja, das ist wohl richtig. Jeder kann mal irren: die Bürger, die Medien, die Wissenschaft, auch die Politiker. Alle können sich irren. Das ist sprichwörtlich menschlich.
Verzeihen scheint deshalb auch menschlich. Denn wie sollen wir weiterhin miteinander leben, wenn wir uns das nicht zugestehen? Wir müssen Wege finden, die Menschen, die sich geirrt haben, die sogar Fehler gemacht haben, in der Gesellschaft zu halten. Das Vergangene darf nicht auf unbestimmte Zeit den zukünftigen Umgang miteinander vergiften.
Allerdings: In Sachen Corona-Politik wird das Verzeihen schwierig. Und es kann damit nicht getan sein.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass diejenigen, denen verziehen werden soll, der Möglichkeit, dass sie sich irren könnten, ü-ber-haupt-kei-nen Raum in ihrem Denken und ihren Behauptungen gegeben haben. Zu keiner Zeit hat ein Politiker oder ein Leitmedium oder ein “Leitwissenschaftler” eine Haltung gezeigt, die Unsicherheit oder Zweifel ausgedrückt hätte. Nie war die Rede davon, dass die Lage unklar sei und einfach mal etwas versucht werden müsse, um zu sehen, ob es vielleicht oder auch nicht hilfreich sei.
Wer spätere Verzeihung für die eigenen Irrungen möchte, der tut gut daran, sich von Anfang an nicht als erhaben darzustellen. Wo Alternativlosigkeit regiert, da regiert die Zweifelsfreiheit. Irren ist keine Option.
Gut, dann ist Verzeihen aber auch keine Option.
Mir fällt es also schwer, denjenigen zu verzeihen, die die Möglichkeit ihrer eigenen Fehlbarkeit ständig als Ausgeburt einer Verschwörungstheorie oder von rechtsradikalem Querdenkertum abgetan haben.
Verurteilen
“Dumm gelaufen. Aber irren ist menschlich. Also: Schwamm drüber!” ist auch inadäquat, wo gute Entscheidungen zur Position gehören. Das ist in der Politik der Fall: Wer Kanzler oder Minister sein will, dessen Job ist es, qualitativ hochwertige Entscheidungen zu treffen. Immer. Umso mehr, je weitreichender und tiefergehender, also je totaler die Entscheidungen sind.
Wer sich dazu nicht in der Lage sieht, der muss zurücktreten. Wer nicht zurücktreten will, der muss zumindest klar machen, dass er sich nicht in der Lage sieht, gute Entscheidungen zu treffen. Wer nicht selbst in der Lage ist, gute Entscheidungen zu treffen, der sollte die Betroffenen einbeziehen. Die Betroffenen, das sind die Bürger.
Geschieht all das nicht… dann ist der Entscheidungsjob einfach schlecht getroffen.
Und das darf nicht ohne Konsequenzen bleiben. “Schwamm drüber!” ist keine Konsequenz, sondern eine Ermunterung, es beim nächsten Mal nicht besser zu machen. Solange ein schlechter Job schlicht verziehen wird, gibt es keinen Anreiz, ihn überhaupt gut zu machen.
Verzeihen darf deshalb nicht die einzige Option bleiben. Zum Verzeihen muss das Verurteilen treten. Wenn es Zeit zum Verzeihen ist, dann ist es auch Zeit, “ohne Zorn und Eifer” die Entscheidungsqualitäten zu überprüfen — und wenn sie schlecht ausfallen, dann müssen Urteile gesprochen werden. Dass Politiker oder Medien oder Wissenschaftler wider besseren Wissens Unanzweifelbares behauptet und/oder entschieden haben, dass es grobe Fahrlässigkeit gab, dass gelogen wurde, dass betrogen wurde, ist für mich offenkundig und selbstverständlich. In keiner chaotischen Gemengelage kann es anders sein; es wird darin nicht das Beste in den Menschen herausgekehrt. Die Krisengewinnler sind immer zur Stelle — und benutzen unsichere Entscheidungsträger für ihre Zwecke. Das müssen Entscheidungsträger wissen. Das müssen sie in ihre Entscheidungen einbeziehen und zumindest weniger gewiss auftreten. Geschieht das nicht, machen sie einen schlechten Job und müssen Konsequenzen tragen von Jobverlust bis zum Strafverfahren.
Das fordert nicht nur die Sache, das fordert auch der Gerechtigkeitssinn der Schutzbefohlenen, d.h. der Bürger. Die Bürger können nicht nur um Verzeihung gebeten werden. Warum sollen sie einseitig Entgegenkommen leisten, wenn vorher Stümperhaftigkeit regiert hat? Nein, es braucht eine saubere Aufarbeitung und Verurteilungen für Verfehlungen. Die Immunität der Politiker darf sich nicht auf eine Immunität gegen eine Pflicht zur Rechenschaft und zum Tragen von persönlichen Konsequenzen erstrecken.
Das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung ist ohnehin stark angespannt. Wenn Politiker und andere angesichts der Größe der Fehlentscheidungen, wie sie während der Corona-Pandemie getroffen wurden, keiner Überprüfung mit ggf. folgender Verurteilung stellen müssen, wird es überstrapaziert.
Vergessen
Und was ist nach dem Verzeihen? Ist da “Schwamm drüber! Back to normal. Nach vorne schauen, nicht zurück.”? Das wäre das Schlimmste!
Zu verzeihen, bedeutet nicht, zu vergessen.
Nach dem 3. Reich wurde verurteilt und musste verziehen werden. Sonst hätte es keine Grundlage für den Wiederaufbau der Gesellschaft gegeben.
Vergessen hingegen war keine Option. Die Zahl der Aktionen “Gegen das Vergessen” war angesichts des Grauens des Holocaust und auch des Krieges deshalb unüberschaubar. Im Schulunterricht, in der Politik, im öffentlichen Raum: die Erinnerung an die Opfer des 3. Reichs war allgegenwärtig. Vergessen war und ist unmöglich.
So schien es zumindest. So hat man es sich eingeredet.
Doch es wurde vergessen. Nicht die Kriegsverbrechen wurden vergessen, auch nicht die Gräuel des Holocaust. Die ganzen Effekte des nationalsozialistischen Faschismus wurden nicht vergessen. Auch der offensichtliche Hergang der Ereignisse wurde nicht vergessen. Die Zahl der Dokumentationen ist überwältigend.
Was allerdings vergessen wurde ist die Bedingung für die Möglichkeit der Gräuel der 3. Reichs. Wie konnte es überhaupt zum nationalsozialistischen Faschismus kommen? Die Antwort ist nicht bei Hitler oder Goebbels oder von Hindenburg zu suchen, sondern in the hearts and minds der Bevölkerung. Keine Machtergreifung ohne die Unterstützung der Masse.
Nicht vergessen wurden Äußerlichkeiten und Abfolgen von Ereignissen. Quantifizierbares wurde nicht vergessen.
Vergessen wurde jedoch das geistige Milieu, das schiere Potenzial in der Bevölkerung, die Grundhaltung — und die Prinzipien einer Radikalisierung und Herrschaftsübernahme. Was in den 1930ern und auch schon vorher für eine Atmosphäre war, wie die Stimmung in den Haushalten war, welches Weltbild die Menschen hatten, wo ihre Sorgen und Nöte lagen, für die sie bereit waren, auch das Schlimmste zu tun… das wurde vergessen. Es wurde vergessen, dass die Menschen im 3. Reich so normal waren, wie heute die Menschen in der deutschen Gesellschaft. Hannah Arendt hat von der “Banalität des Bösen” gesprochen; das Böse braucht keinen finsteren Schurken, keinen Soziopathen, es schlummert in ganz gewöhnlichen Menschen — und braucht nur die passenden Bedingungen, um sich in den Vordergrund zu schieben.
Das darf nicht wieder passieren!
Die Gesellschaft darf nicht wieder vergessen, was aus ihr in 2 Jahren werden konnte. Sie darf nicht wieder vergessen, dass in ihr das Potenzial schlummerte, die Verantwortung abzugeben an “eine starke Hand” und ein Ideal. Dass sie bereit war, die Meinungsfreiheit zu streichen, die Versammlungsfreiheit aufzuheben, die Menschen in gut und böse einzuteilen.
SARS-CoV-2 als Auslöser ist nebensächlich. Auch die verordneten Maßnahmen sind nebensächlich. Zentral ist, dass Entscheidungsprofis ihren Job nicht gemacht haben, dass sie den Einflüsterungen von Industrie und Wissenschaft erlegen sind und das Land in zweifelsfreie Propaganda getaucht haben, die die hearts and minds der Masse im Sturm eroberte.
Es hat wieder funktioniert.
Auch wenn die Resultate (noch) nicht mit denen des 3. Reiches zu vergleichen sind — es wurden nicht Millionen in einem militärischen Krieg verheizt oder in einem KZ ausgerottet —, hat ein Fanatismus seinen Anfang genommen, der die Gesellschaft zumindest gespalten hat. Freundschaften und Familien sind daran zerbrochen. Existenzen sind daran zugrunde gegangen.
Dass ein Fundamentalismus solcher Gewalt überhaupt die Menschen ergreifen konnte, die meinten, fleißige Schüler der eigenen Geschichte gewesen zu sein, die von sich behauptet haben, dass ihnen nicht passieren könnte, wozu sich ihre Großeltern und Urgroßeltern zu Millionen hatten hinreißen lassen, das darf nicht vergessen werden.
Verzeihen? Ja. Es ist notwendig für einen Neuanfang, der nicht durch Groll behindert wird. Wir können uns schmollendes Nachtragen nicht erlauben.
Verurteilen? Ja. Es ist notwendig für die Gerechtigkeit und als Signal für zukünftige Entscheidergenerationen. Die Gesellschaft ist kein Spielball und kein Selbstbedienungsladen für Unfähige und Fahrlässige.
Vergessen? Nein! Jeder muss sich daran erinnern, dass Regierung, Medien, Unternehmen, Intellektuelle und auch Nachbarn von einem Tag auf den nächsten zu Fundamentalisten werden konnten, die hinter Maßnahmen standen, die als alternativlos hingestellt wurden. Unverbrüchlich geglaubte Freiheit im Denken, Sprechen, Zusammenkommen konnte über Nacht geraubt werden, ohne dass ein Aufschrei durch die Gesellschaft ging. Gefolgschaft bis zur Denunziation statt Skepsis oder Widerstand.
Dass die Gesellschaft auf jeder Ebene nicht gefeit ist vor dem Fanatismus und dem Moralismus, der bis zur totalen Einschränkung geht, darf nicht vergessen werden.