Vom hohen Ross des Unverständnisses herunter
Kündigung aufgrund von Impfverweigerung. So geschehen bei Disney. Ob das nur in den USA passiert oder überhaupt dort möglich ist, weiß ich nicht. Ob das ein Einzelfall ist oder zunimmt, weiß ich auch nicht. Dass die USA Deutschland in dieser Hinsicht voraus sein können, kann ich kaum glauben. Doch das ist auch gar nicht das, was mir bei diesem Austausch bei LinkedIn aufgestoßen ist:
Ted Neward kenne ich persönlich und schätze ihn für seine professionelle Kompetenz in Sachen Softwareentwicklung. Seine Antwort an Thornton Rose lässt jedoch aus meiner Sicht Qualität vermissen. Ob ich nun Thorntons Meinung teile oder Teds, ist unwichtig. Mein Punkt ist das erschreckende Unverständnis, das Ted an den Tag legt. Er reitet auf einem hohen Ross — und bekommt dort oben nicht mit, dass es nicht um science geht.
“[Y]ou’re on the wrong side of […] the science” passt vielleicht bei einer Frage zum Thema Physik, nicht jedoch, wenn es um das gesellschaftliche Zusammenleben geht.
Dass public health höher steht als bodily autonomy ist kein Faktum, das Wissenschaft herausfinden könnte (außer vielleicht die Anthropologie beim Studium einer Gesellschaft). Wissenschaft erfindet nicht, sie entscheidet nicht, sondern sie analysiert nur, was ist. Sie kann erkennen, dass mehr Menschen an Lungenkrebs sterben, die rauchen, als die, die nicht rauchen. Sie kann auch erkennen, dass das Tragen von Masken keinen erkennbaren Effekt auf positive SARS-CoV-2 Testergebnisse hat — oder eben doch. Wissenschaft ist “nur” dazu da, in einem Diskurs basierend auf Beobachtungen, das Wissen der Realität anzunähern.
Wie sich Einzelne oder eine Gesellschaft zu solchen Erkenntnisse verhalten, ist hingegen überhaupt nicht Sache von Wissenschaft. Es gibt keine Gleichung, aus der folgen würde, dass wissenschaftliche Erkenntnis sich in Gesetzen oder auch nur gesellschaftlichen Gepflogenheiten ausdrücken muss.
Public health über bodily autonomy zu stellen, ist vielmehr eine philosophische oder ethische Entscheidung. Sie obliegt Menschen, sie ist subjektiv und fällt immer wieder anders aus. In ihr drückt sich ein Wert aus. Damit lässt sich auch ganz leicht erklären, dass Thornton und Ted unterschiedlicher Meinung sind: Sie haben andere Werte — und können trotzdem beide Freunde der Wissenschaft sein.
Menschen können für sich persönlich die eigene Gesundheit höher stellen als das öffentliche Wohl; dann werden sie z.B. Buchhalter oder Programmierer. Oder sie können die eigene Gesundheit hintenan stellen und sich für andere/die Gemeinschaft opfern; dann werden sie Polizist, Soldat oder Pfleger.
Anzunehmen, dass Gesundheit objektiv und für alle gültig über Freiheit steht und stehen sollte, ist ein Kategorienfehler. Der Wert von Gesundheit ist unabhängig von Fakten. Zu einer bestimmten Bewertung kann niemand gezwungen werden. Kann nicht und sollte auch gar nicht erst versucht werden. Das widerspräche jedem Anspruch an eine freiheitliche Gesellschaft.
Dass Menschen sich wider die Erkenntnis von Wissenschaft verhalten, ist völlig alltäglich. Wenn Ted etwas anderes impliziert, entbehrt das jeder Alltagserfahrung. Er muss ja nur an den Arbeitsplatz schauen oder in eine Bar gehen: Suchtverhalten ist allgegenwärtig.
Dass also eine wissenschaftliche Meinung — die sich auch wieder ändern kann, wie die Geschichte vielfach beweist — zwangsläufig eindeutig und alternativlos in Ansichten und Verhalten Niederschlaf finden sollte und deshalb Thornton on the wrong side steht, ist lächerlich. Er steht auf einer Seite, aber deshalb nicht auf der falschen. Und Ted steht nicht einfach auf der richtigen, sondern nur auf der anderen.
Dass sich wissenschaftliche Erkenntnis in Gesetzen niederschlägt, ist eine andere Sache. Auch das ist kein Automatismus — außer vielleicht in einer szientistischen Gesellschaft —, sondern spiegelt nur eine Bewertung wider. Ob die mehrheitsfähig ist, sei auch dahingestellt; denn Politik, selbst formal mehrheitlich gewählte Politiker, entscheiden nicht stets im Sinne einer Bevölkerungsmehrheit.
Ted hat recht, dass Thornton sich on the wrong side des Gesetzes befinden könnte. (Ob er das in den USA tut, weiß ich allerdings nicht. Gibt es dort Impfpflicht, wenn man in Konzernen arbeitet? Oder darf der Arbeitgeber in dieser Hinsicht in das Leben seiner Mitarbeiter eingreifen und eine Impfung fordern?) Wenn das Gesetz Disney die Erlaubnis gibt, eine Impfung zu fordern, dann hat Thornton den Kürzeren gezogen. Allerdings darf Thornton sich darüber selbstverständlich beklagen. Niemand muss spezielle Gesetze mögen, auch wenn er grundsätzlich mit der Verfassung eines Staates übereinstimmt.
Wie Ted Thornton angeht, ist für mich symptomatisch für “den Zeitgeist”. Der ist moralisierend, rechthaberisch, schnellverurteilend, dekontextualisierend, antifreiheitlich. Freiheit hat ausgedient. Interessanterweise hat sie das, da Vielfalt so hoch geschätzt wird: Jeder hat die Freiheit, sein Geschlecht zu definieren — aber bei der Impfung wird kein Spaß verstanden?
Ja, denn die soll etwas anderes sein; bei ihr geht es nicht rein ums Persönliche, sondern ums Allgemeine. Das Allgemeine wird höher gesetzt als das Persönlich.
Ich bezweifle das. Aber das ist ein anderes Thema. Wichtiger ist, dass das nicht einmal wünschenswert ist. Ted sollte sehr, sehr vorsichtig sein, wenn er das für die richtige Seite von Wissenschaft und Gesetz hält. Denn wenn die Allgemeinheit oder ein System höher gestellt wird, dann kann im Namen der Allgemeinheit oder eines Systems letztlich alle Freiheit eingeschränkt werden. Dann ist individuelle Freiheit nicht “der Naturzustand”, sondern die Ausnahme in einer Lücke von Gesetz und Wissenschaft.
Die Argumentation mit Allgemeinheit, Solidarität oder Systemschutz ist a slippery slope. Wer sich auf diese schiefe Ebene begibt, kann sich bald nicht mehr halten. Die Grenzen von Gesetz und Wissenschaft verschieben sich ständig. Wer heute noch auf der richtigen Seite ist, kann sich morgen schon auf der falschen befinden. Also aufpassen mit der Herablassung!