Wenn die Lebensqualität auf der Strecke bleibt
Was ist das Ziel deines Lebens? Hast du dir etwas vorgenommen oder haben deine Eltern, die Schule, „das System“ etwas für dich vorgesehen? Nein, natürlich sind deine Ziele deine Ziele; da redet dir niemand rein. Du bist ganz gewiss! Allemal, wenn du an follow your passion glaubst.
Ganz früher wurden die Kinder, was die Eltern schon waren. Da gab es wenig Diskussion und auch wenig Auswahl. Später wurden dann die Kinder, was die Eltern sich für sie wünschten; sie sollten ein besseres Leben haben. Während die Eltern noch Arbeiter waren, dann hatten die Kinder schon die Chance, Akademiker zu werden. Was sollte daran falsch sein? In eine Stadt ziehen, studieren, dort einen gut bezahlten Job bekommen: Das war und ist eine Lösung, kein Problem.
Und heute? Heute sind erstens die Möglichkeiten noch vielfältiger und zweitens ist es nicht mehr so klar, dass eine lange akademische Ausbildung auch zu einem gut bezahlten Job führt.
Das ist für die junge Generation schon seit einigen Jahren kein kleines Problem. Im Kindergarten ist der Berufswunsch allen noch klar: Astronautin, Fußballstar, Zirkusartistin, Hundefriseur… Danach jedoch zieht Nebel auf. Die berufliche Zukunft wird mit Fortschritt im Schulsystem immer unklarer. Von allen Seiten wird zu Realismus angehalten: ein Astronautinnenleben ist gefährlich und sowieso ganz unwahrscheinlich und mit Hundefrisuren lässt sich nur ein kärgliches Leben fristen. „Willst du das wirklich? Überleg doch mal…“
Und so knicken viele bis zum Start ins Berufsleben ein. Sie tun entweder, was die Generation vor ihnen gemacht hat: am besten in eine Stadt ziehen, studieren und dann bestimmt, bestimmt Karriere machen. Am besten in einem Konzern. Was könnte da schief gehen? Oder sie gehen in die Verwaltung. Braucht der öffentliche Dienst nicht immer Menschen und morgen sogar noch mehr? Was könnte da schief gehen? Die Befragung von Schülern zeigt jedenfalls, dass Konzerne und Verwaltung/Staatsdienst einen hohen Wunschwert haben.
Ja, was könnte schief gehen, wenn man seine berufliche Zukunft in Konzernen oder unter den Fittichen von Vater Staat sieht? Das Geld ist sicher, da sind bestimmt nette Kollegen. Bei der Polizei gibt es quasi garantiert auch noch Abenteuer, z.B. Demonstrantenjagd, und überhaupt den Einsatz für Recht und Ordnung, also das Gute.
Alternativ versuchen es manche mit follow your passion. Aber was, wenn die passion kärglich bezahlte Hundefrisuren sind? Dann doch vielleicht lieber etwas Solideres? Und am besten in einer Stadt.
Als ich gestern wieder mal mit dem Auto in eine Millionenstadt gefahren bin, stand mir vor Augen, was schief gehen könnte: das Leben. Denn was für ein Leben ist es, wenn das in Großstädten in kleinen, viel zu teuren Wohnungen und vollem ÖPNV und Großraumbüro stattfindet? Oder jeder Arbeitstag mit einer Stunde Pendelei im Stau beginnt und endet, um im Reihenhaus mit hoher Hypothek, für die das Pendeln zum Job im Bürokratiekorsett Voraussetzung ist, erschöpft am Grill zu stehen?
Lebensqualität bleibt buchstäblich auf der Strecke. Am Arbeitsplatz genervt von der Gängelei durch Vorgesetzte; zuhause erschöpft von der Gängelei und vom Aushalten der scheinbaren Alternativlosigkeit.
Das sehe ich zu eng? So könne man das doch nicht pauschal sagen? Ja, ein wenig überspitzt mag es sein. Aber nur so kann ich das Muster darstellen, was ich erkenne: dass die Menschen in die Stadt getrieben werden auf der Suche nach Karriere für ein gutes Leben — und darüber die Grundlage zurücklassen, die für ein gutes Leben nötig ist.
Was ist diese Grundlage? Zuerst ist da die Natur, dann die Bewegungsfreiheit in der Natur.
Natürlich sage ich das, weil ich das jeden Tag habe. Nach 35 Jahren Wohnung im Herzen einer Großstadt lebe ich nun in einem Haus mit Land drumherum gegenüber von Wald und Bergen. Ich merke einfach, was für ein Unterschied das ist. Deshalb erlaube ich mir diesen kritischen Blick auf die pendelnde, eingepferchte Masse.
Solange ich noch in der Großstadt gelebt habe, war mir deren Beschränkung und Widernatürlichkeit auch nicht bewusst. Ich habe gedacht, dass ich damit meinen Traum lebe. Und für ein paar Jahre mag das auch gestimmt haben. Während man jung ist, hält man viel aus. Ein paar Jahre in der Stadt helfen, sich zu orientieren, etwas auszuprobieren, Verbindungen zu knüpfen. Warum nicht?
Doch auf ein Leben in der Stadt, also auf Widernatürlichkeit die Lebensplanung aufzubauen… das halte ich inzwischen für gänzlich fehlgeleitet.
Warum so hart: Widernatürlichkeit?
Der Mensch ist von Natur aus kein Herdentier, sondern hat sich in kleinen Gruppen entwickelt. Wird er in Massen zusammengebracht, entstehen viele negative Effekt, z.B. für die Umwelt.
Der Mensch ist von Natur aus kein Betonbewohner, sondern hat sich in konstantem Kontakt mit Pflanzen- und Tierwelt entwickelt. Wird er permanent aus der Natur extrahiert, entstehen viele negative Effekte für ihn persönlich.
Selbstverständlich verstehe ich, dass seit Jahrhunderten Städte Menschen anziehen; „Stadtluft macht frei!“, hieß es einmal. In Städten gibt es so viele mehr opportunities für die persönliche Entwicklung, gar die Karriere, also das Geldverdienen. Und mit dem Geld kann man sich wieder ein gutes Leben machen.
Klingt irgendwie plausibel. Inzwischen glaube ich daran jedoch nur noch bedingt. Wie gesagt: Für eine gewisse Entwicklungszeit von vielleicht 10 Jahren mögen die Belastungen durch das Stadtleben geringer sein als der unmittelbare Nutzen der Alternative. Warum also nicht die Stadt als temporären Katalysator benutzen?
Doch darüber sollte das große Ganze nicht aus den Augen verloren werden. Ein natürliches, gesundes Leben kann es nicht in einer Großstadt geben. Da helfen auch keine Parks oder verkehrsberuhigten Zonen. Die Stadt ist vom Prinzip her widernatürlich und gesundheitsschädlich und deshalb einem guten Leben nicht zuträglich.
Wie gesagt, das habe ich über Jahrzehnte auch nicht deutlich bemerkt. Ich habe mir das Stadtleben schöngeredet. Erlebnisse — Kultur! — und Konsum und Spaziergänge im Park und Begegnungen „mit spannenden Menschen“ haben mich über die grundsätzliche Armut an natürlicher und unmittelbarer Lebensqualität hinweggetäuscht.
Meine Grundstimmung war „Das habe ich mir verdient!“, wenn ich diesen Event besucht oder jenes Produkt gekauft habe. Restaurant, Kino, Straßenfest, Shopping, kurzer Urlaub außerhalb der Stadt, Literaturlesung, Kaffeehaus, Sportstudio… für jede Ablenkung von der Arbeit war allerdings Geld nötig, das ich mir natürlich am besten in der Stadt erarbeitet habe. Stadtleben erzwingt Konsum; im Kapitalismus stehen daher alle Zeichen auf Stadtleben.
Die Stadt ist ein Attraktor, ein Strudel, der die Menschen in sich hineinzieht und hält. Als soziales System will sie sich ja auch selbst erhalten. Sie tut alles, um zu wachsen: Menschen nicht loslassen, weitere anziehen. Das passiert von allein, denke ich. Darüber hinaus ist das aber auch gewollt. Denn Menschen in einer Stadt lassen sich besser lenken. Zentralisierung ist der feuchte Traum all jener, die Kontrolle haben und behalten wollen. Dezentral lebende Menschen auf dem Lande sind für control freaks ein Greuel.
Stadt scheint deshalb ganz bewusst zunehmend alternativlos: dort ist der Spaß, dort ist das Geld. Doch ich erlaube mir zu sagen: Das ist kurzsichtig. Denn Spaß jetzt und Geld sofort haben ihren Preis. Der besteht in langfristig suboptimaler Lebensqualität. Die ist offensichtlich in Form von schlechter Luft, Lärmbelastung, Naturmangel, Gedränge, hohen Preisen, hohen Mieten, Pendelei. Die ist weniger offensichtlich in Form psychischer Belastung durch Stress, der sich früher oder später auch körperlich manifestiert.
Sollte das wirklich das Ziel deines Lebens sein? Es geht nicht besser, als auf 60qm in einer Stadt zu wohnen und sich durch Konsum und Stadionbesuch am Wochenende vom Stress auf der Arbeit zu entlasten?
Aus der Distanz, die ich inzwischen zu diesem früheren Leben aufgebaut habe, kann ich sagen: Doch, es geht besser. Und: Ich hätte das früher sehen sollen. Ich hätte früher die Reißleine ziehen und mich aus der Enge und dem Konsumzwang der Stadt absetzen sollen in die Weite und Freiheit eines Lebens auf dem Lande.
Das kann doch aber nicht jeder? Ja, vielleicht kann das nicht jeder, jedenfalls nicht ohne Anlauf. Ich glaube allerdings, dass es mehr, viel mehr könnten, als sie es sich erlauben vorzustellen. Außerdem ist unsere Gesellschaftsorganisation nicht gottgegeben; wir gestalten unser persönliches wie das gesellschaftliche Leben selbst. Wenn wir persönlich oder kollektiv entscheiden, weniger auf Städte zu setzen, dann steht dem nichts im Wege — außer wir uns selbst.
Derweil ist jedoch alles auf ein Leben für Geld und Spaß in der Stadt ausgerichtet. Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste — und das finden die nur in der Stadt. Die Schule will auch nur das Beste, was bedeutet, stromlinienförmig auf einen Job vorbereitet zu sein — und der winkt vor allem lukrativ in der Stadt.
Und wo wird eine Vorstellung von einem guten, natürlichen Leben vermittelt? Wo werden Naturnähe, Stille, Bewegungsfreiheit ohne Konsum, Gestaltungsspielraum auf eigenem Grund und Boden, Unabhängigkeit als Werte vermittelt? Das scheinen mir keine Aspekte von Erziehung, Ausbildung, leitmedienvermittelter Realität oder überhaupt Politik zu sein.
Genau deshalb ist es wahrscheinlich, dass du nicht willst, was du willst, sondern Ziele verfolgst, die die Politik dir suggeriert. Dass die an einem natürlichen, guten Leben für dich interessiert ist, darf allerdings bezweifelt werden. Politik will nicht, dass es dir gut geht, sondern dass es ihr gut geht. Im Zweifel setzt sie sich für ihren Fortbestand ein, statt ein gesundes Leben ihrer Bürger. Aber das ist ein anderes Thema…
Ich wünsche mir, dass mehr Menschen weniger reflexhaft das widernatürliche Leben in der Stadt wählen und stattdessen eine bewusstere Entscheidung für ein Leben außerhalb treffen. Eine dezentralere Gesellschaft, in der wieder lokaler gearbeitet und deshalb auch ohne Pendelei naturnah in kleineren Gemeinschaften gelebt wird, halte ich für zukunftsfähiger als eine, die auf Zentralisierung mittels Stadttechnologie setzt.
Digitalisierung kann hier zu einem guten Zweck Einsatz finden. Sie ermöglicht die flexiblere, dezentrale Zusammenarbeit — wenn man es denn zulässt.