Wirken sie oder wirken sie nicht?
Wir kommen nicht weiter mit binärer Diskussionen. Zeit für mehr Toleranz.
Ich fühle mich in die Pandemie-Jahre zurückversetzt: Die einen sagen, die Maßnahmen gegen das Virus wirken; insbesondere die Impfung sei der Heilsbringer, nur nützlich und gar nicht schädlich. Die anderen sagen… das Gegenteil.
Denn jetzt wiederholt sich das Schema: Die einen sagen, die Maßnahmen gegen Russland wirken; insbesondere die Sanktionen seien vor allem nützlich und nur ein bisschen schädlich. Die anderen sagen… das Gegenteil.
Früher war trust the science — nur welcher Wissenschaft? Der, die die eine Studie herausgegeben hat, oder der, die die andere angefertigt hat?
Heute ist trust the analyst — nur welchem Analysten? Dem, der die eine Analyse gemacht hat, oder dem, der die andere angefertigt hat?
Ich finde es inzwischen sogar müßig dem Geld zu folgen. Inwiefern profitiert Yale vielleicht vom positiven Studienergebnis oder Simon Jenkins von seiner negativen Darstellung?
Ist das nicht eigentlich egal? Denn:
Wir kommen so nicht voran, wenn völlig konträre Parteien jeweils behaupten, die Wahrheit zu vertreten. Denn selbst wenn eine tatsächlich spot on bei der Wahrheit wäre, würde das nur wenig nützen, weil im Kampf um die Wahrheit wie bei jedem Kampf der Verlierer nicht einfach dem Gewinner gratuliert. Wer verliert, strengt sich beim nächsten Mal mehr an, dieser Schmach zu entgehen. Und wenn er es in der einen Disziplin nicht schafft, sucht er eine für ihn gewinnträchtigere Konfrontation mit dem bisherigen Gewinner in einer anderen Disziplin.
Aus der binären Sichtweise, dass entweder die eine oder die andere Seite Recht haben muss, müssen wir aussteigen. Sie trägt den Krieg aus fernen Ländern in die Wohnstuben und an die Arbeitsplätze. Sie verengt unsere Sicht auf die Welt.
Tertium non datur? Wirklich? Keine Chance auf eine Synthese?
Wo könnte eine mittlere Position liegen?
Ich denke, sie liegt im Abschied von der Objektivität.
Es darf nicht mehr darum gehen, sich für die Wahrheit entscheiden zu müssen.
Nur, wenn wir überhaupt meinen, es sei objektiv und für alle Menschen gültig feststellbar, dass das SARS-CoV-2 ein Killer und Russland das Reich des Bösen ist, gibt es den binären Konflikt. Nur wenn wir darauf aufbauend meinen, dass die echte Wahrheit von einer Institution erkannt werden kann, die daraus dann für alle Menschen gültige Maßnahmen ableitet, spaltet sich die Gesellschaft.
Die Mitte liegt deshalb nicht in “Das Virus ist vielleicht nicht ganz schlimm, aber doch ein bisschen” oder “Russland ist nicht ganz böse, aber trotzdem zu meiden”. Die Mitte hat nichts mit einer Einigung, einem Konsens zu tun. Das anzunehmen, läge einem Anhänger der Vorstellung, Deutschland sei ein demokratisches Land und müsse daher immer den Konsens suchen, vielleicht nahe. Doch wo der Kampf stets Sieger und Verlierer hinterlässt, da hinterlässt der Konsens Frustration und Verwässerung.
Nein, keine Sieger und Verlierer, auch kein Konsens. Das tertium besteht im Verzicht auf Objektivität und daraus folgend auf Allgemeingültigkeit. Warum sollte es überhaupt einen Anspruch auf Wahrheit geben, der über die eigene Person hinaus geht? Warum überzeugen, Proselyten machen? Soll doch jeder nach seiner Façon glücklich werden. Warum Gleichschritt erzwingen?
Die Lösung liegt vielmehr in einer kategorialen Freiheit, seine eigene Wahrheit haben zu dürfen. Der eine hat diese, der andere jene. Fertig.
Die des einen Glaubens sollen sich gern versammeln und darin bestärken, die des anderen Glaubens ebenfalls.
Wer eines Glaubens ist, soll sich gern innerhalb seiner Gemeinschaft absprechen über Maßnahmen. Gemeinschaft kann die Willenskraft stärken. Das ist wunderbar. Doch über die Glaubensgemeinschaft hinaus sollte kein Anspruch bestehen, dass andere ebenfalls diesen Absprachen folgt.
Wir brauchen ein neues Toleranzedikt! Nur dann löst sich die Spannung wirklich auf, die die Gesellschaft zu zerreißen droht. Toleranz bedeutet hier, die andere Meinung nicht nur zuzulassen, sondern die Reichweite eigener Entscheidungen zu begrenzen.
Wer dem Glauben anhängt, dass eine SARS-CoV-2 Impfung nützlich ist, soll sich impfen lassen. Aber er soll auch die tolerieren, die anderen Glaubens sind. Also kein Impfzwang.
Wer dem Glauben anhängt, dass Geschäfte mit Russland dem Bösen Vorschub leisten, soll darauf gern verzichten. Aber er soll auch die tolerieren, die anderen Glaubens sind. Also keine staatlich verordnete Sanktionspolitik.
Glaubensfreiheit, Vertragsfreiheit, Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung in Fragen der Gesundheit. Nur so kann der Frieden in der Gesellschaft erhalten bleiben.
Und dieser Friede aus Freiheit heraus ist wichtiger als alles andere. Er steht über Gesundheit, er steht über Demokratie oder Kapitalismus. Wer diesen Frieden aus Freiheit für etwas anderes opfert, wird sonst am Ende beides verlieren.