Andere Demokratie wagen
Die real existierende Demokratie wird ihrem Anspruch nicht gerecht. Drei Vorschläge für eine Verbesserung.
Unsere Demokratie ist am Ende — wenn es denn je eine Demokratie war. Natürlich habe ich aus der Schule mitgenommen, dass wir in der besten Gesellschaft aller Zeit leben. Ich habe das geglaubt. Es klang auch irgendwie plausibel. Denn wie sonst sollte sich der für mich spürbare Wohlstand um mich herum erklären lassen?
Jetzt glaube ich das aber nicht mehr. Ich glaube nicht mehr an einen Kausalzusammenhang, sondern mehr an eine Korrelation von Demokratie und Wohlstand.
Die real existierende Demokratie als Problemfall
Man hat mir beigebracht, dass in einer Demokratie das ganze Wahlvolk das Sagen hat. Fragt sich nur wann. In einer repräsentativen Demokratie hat das Wahlvolk nur sehr, sehr selten das Sagen. Und seine Ansage ist nicht direkt in Bezug auf eine Sache, sondern nur indirekt in Bezug auf Menschen, die später einmal in einer noch unbekannten Sache entscheiden.
Klar, wie soll es auch anders gehen? Es kann sich ja nicht jeden Tag jeder Bürger um die Angelegenheiten eines Staates kümmern. Das muss delegiert werden.
Nur, was wenn die Delegierten nicht im Sinne des Bürgers handeln? Angesichts mangelnder Eingriffsmöglichkeiten des Wahlvolks innerhalb einer Legislaturperiode, kann eine Menge schief laufen und unkorrigiert bleiben über Jahre. Die Reaktionsfähigkeit des Wahlvolks in einer repräsentativen Demokratie ist einfach sehr gering. Das leistet Selbstbereicherung, Klüngel, eigener Agenda Vorschub bei den Gewählten — umso mehr, je weiter sie dem Wahlvolk entrückt sind. Dass auch der standfesteste Repräsentant da mal schwach werden kann, scheint mir naheliegend. Und wenn er damit Erfolg hat, warum sollte ihm nicht daran gelegen sein, das zu vertuschen und sich nach Kräften für eine Wiederwahl zu positionieren?
In keinem Unternehmen sind Personaländerungen nur alle vier Jahre möglich. In keinem Unternehmen ist die Ignoranz so groß, was den Unterschied zwischen Versprechen vor Einsetzung in eine Position und der Umsetzung im Laufe der Arbeit bis zum nächsten Review angeht. In keinem Unternehmen ist die accountability für Leistungen bzw. ihr Fehlen so gering oder gar durch Immunität gepolstert.
Aber die repräsentative Demokratie erlaubt sich das und hat den Anspruch, gerade dadurch das Wohl der Bürger zu maximieren? Echt jetzt? Das scheint mir von Tag zu Tag eine größere Illusion.
Deutschland folgt den Ritualen einer als idealen proklamierten Demokratie — die real existierende Demokratie ist jedoch alles anderes als ideal. Es ist wie mit dem Sozialismus: den gibt es in idealer Form und den gab es in real existierender Form. Und der real existierende war nur ein Schatten des idealen; der real existierende hat vor allem großes Leid über die Menschen gebracht.
Die real existierende Demokratie, wie sie sich gerade in der Corona-Pandemie darstellt, scheint mir mindestens an drei fundamentalen Problemen zu leiden, sozusagen Geburtsfehlern:
Geburtsfehler I: Isolation der Repräsentanten
Die repräsentative Demokratie trennt Führung vom Volk. Darin könnte ich noch einen Nutzen sehen, weil dadurch die allermeisten Menschen entlastet werden. Das ist eine Form von Arbeitsteilung.
Allerdings ist die Arbeit der gewählten Repräsentanten eine Besondere. Sie sollen sich ausdrücklich um das Wohl aller Wähler kümmern. Das ist eine verantwortungsvolle und ehrenvolle Aufgabe. Damit sollten besondere Menschen betraut werden, die Besten. Oder?
Leider ist nicht zu erwarten, dass sich nur die Besten auch zur Wahl stellen.
Und leider ist nicht zu erwarten, dass selbst die Besten den strukturellen Kräften widerstehen können, die die repräsentative Demokratie entfesselt.
Die erste Kraft ist eine Trägheitskraft. Sie führt dazu, dass Repräsentanten sich in ihrer Rolle einrichten. Einmal Repräsentant, immer Repräsentant. Wer würde eine verantwortungsvolle und ehrenvolle Entscheidungsrolle, ergo eine machtvolle Rolle freiwillig aufgeben wollen?
Repräsentanten sind damit verführt, bei der nächsten Wahl ihre Leistungen besser darzustellen, als sie waren, um ihre Rolle nicht aufgeben zu müssen. Und da das Gedächtnis des Wahlvolks naturgemäß kurz ist und seine Einflussmöglichkeiten sehr begrenzt, besteht eine gute Chance, dass solche Schönfärberei auch Erfolg hat.
Die zweite Kraft ist eine Kohäsionskraft. Sie führt dazu, dass sich Bindungen zwischen Repräsentanten ausprägen. Sie halten zusammen und bilden eine eigene Klasse. Selbst bei unterschiedlicher politischer Position sind sie geeint durch ihre Repräsentantenrolle. Daraus folgt erstens, dass die Führung als Ganzes ein Interesse an Schönfärberei hat. Zweitens folgt, dass sich ein Korpsgeist ausbildet, der im Zweifelsfall den Selbstschutz bzw. Eigennutz vor den vom Wähler erteilten Auftrag stellt.
Die dritte Kraft ist eine Zentrifugalkraft. Die durch Trägheit konstant gehaltenen und durch Kohäsion zusammengeschweißten Repräsentanten bilden eine um das Wahlvolk kreisende stabile Masse bzw. Klasse, die sich durch zunehmende Geschwindigkeit immer weiter von ihr entfernt.
Die Repräsentanten schleudern sich vom Wahlvolk weg, sie heben ab. Das Wahlvolk steht am Boden und schaut zu, wie die Repräsentanten sich schneller und schneller drehen. Denn die Repräsentanten können nicht anders, als einen Motor in Gang zu setzen, der sie in immer höhere Höhen steigen lässt. Legitimation erhalten sie nur, solange sie für das Wahlvolk augenscheinlich nützlich sind. Je schwieriger das wird, wenn der Wohlstand ein gewisses Niveau und die Komplexität der Gesellschaft einen gewissen Grad erreicht hat, desto mehr muss die Repräsentantenklasse auf das Entscheidungsgas treten. Es muss entschieden, verhandelt, reguliert werden, auch wenn der de facto Bedarf abnimmt; die Differenz zwischen dem Nötigen und dem Entschiedenen nimmt zu. Die Distanz zwischen der Erlebniswelt des Wahlvolks und der Erlebniswelt des Repräsentantenkorps steigt.
Es entsteht ein Kokon, in dem Repräsentanten isoliert von den Repräsentierten leben und weben. D.h. die Fähigkeit der Repräsentanten wirklich das Wahlvolk mit seinen Sorgen und Nöten zu repräsentieren, nimmt drastisch ab. Die Folge: ein steigender Legitimationsdruck auf die Repräsentantenklasse. Denn das Wahlvolk spürt, dass sich seine Repräsentanten zunehmend zu Astronauten entwickeln, die um die Welt in einer eigenen Sphäre schweben. Das steht im Widerspruch zum Bild der Demokratie, das vermittelt wird. Eine steigende Spannung ist unvermeidbar.
Verbesserungsvorschlag
Der Geburtsfehler ist die gewählte langfristige und universelle Repräsentanz:
Unehrlichkeit: Repräsentanten werden gewählt. Demokratie basiert also auf einem Attraktivitätswettbewerb. Dass sich Menschen in einem solchen Wettbewerb so darstellen, wie sie sind, ist nicht zu erwarten. Wahlen unterscheiden sich nicht von den Partnerbörsen im Internet. Wahlen fördern also nicht die Repräsentation durch Menschen, die die Wähler wirklich kennen oder die auch nur integer wären. Lauterbach hat es ausnahmsweise ehrlich klar gesagt: “Die Wahrheit führt in vielen Fällen zum politischen Tod.”
Vorteilsnahme: Repräsentanten können sich auf Jahrzehnte in der Führung einrichten, solange sie genügend Attraktivität rechtzeitig zur Wahl ausstrahlen. Damit wird der Akkumulation von Pfründen — materiellen wie “ideellen” — Vorschub geleistet. Außerdem macht eine konstante Rolle Repräsentanten zum Ziel von Lobbyisten. Die Zahl der Versuchungen wächst damit für Repräsentanten, sich einen persönlichen Vorteil im Amt (oder nach dem Amt) zu verschaffen.
Kompetenzillusion: Repräsentanten sind für alle Führungsentscheidungen eingesetzt. Sie befassen sich mit Umweltschutz wie mit Waffenlieferungen oder Sozialfragen. Außerdem sollen sie in Sachen ganz unterschiedlicher Tragweite und Eingriffstiefe entscheiden. Mit diesem Anspruch an sie entsteht eine Kompetenzillusion, d.h. die Annahme, dass wenn sie gewählt sind, sie auch kompetent sein müssen. Oder? Sie wurden doch nicht umsonst gewählt. Nichts scheint mir jedoch ferner der Realität.
Und wie kann der Geburtsfehler behoben werden? Mir gefällt der Ansatz, der in diesem Buch beschrieben wird:
Wenn schon Repräsentanten, dann keine gewählten und keine langfristigen und keine universellen.
Das kann erreicht werden durch eine Auslosung von Repräsentanten. Wenn der Zufall über Repräsentanten entscheidet, gibt es keinen Attraktivitätswettbewerb mehr.
Wenn dann zufällig gezogene Repräsentanten lediglich in einer Sache eine Entscheidung treffen sollen, ist ihre Rolle auch zeitlich stark begrenzt und nicht universell.
Und die Kompetenz? Repräsentanten müssen keine Sachkompetenz haben. Dass die nötig sei, ist ein grundlegendes Missverständnis oder eine geschürte Illusion zur Demokratie. Repräsentanten müssen genauso wenig Virologen sein wie weiland Angela Merkel, die sich trotzdem Entscheidungen erlaubt hat, die auf ihr vorgetragenen Erkenntnissen der Virologie basiert waren.
Repräsentanten müssen nur eine Kompetenz haben: die zur Repräsentation. Das bedeutet, sie müssen vor allem sie selbst bleiben in ihrer Rolle und die grundlegenden Sozialkompetenzen für einen wohlwollend-kritischen Austausch mit anderen Repräsentanten und Sachexperten haben.
Geburtsfehler II: Gleichbehandlung aller Entscheidungen
Der Anspruch der repräsentativen Demokratie ist, dass dieselben Repräsentanten alle, aber auch wirklich alle Entscheidungen für das Wahlvolk treffen, die in einer Legislaturperiode anfallen. Das halte ich für ein Grundübel, weil zum Zeitpunkt der Wahl nicht klar ist, was alles in den nächsten Jahren an Problemen auftaucht. Die Zukunft kann sehr anders sein als die Vergangenheit. Ob also ein Repräsentant, der nur vor dem Hintergrund bisheriger Leistungen gewählt werden kann, den zukünftigen Anforderungen gewachsen ist, ist sehr fraglich. Guter Wille und Selbstvertrauen scheinen mir keine ausreichende Versicherung.
Die Probleme, denen sich Repräsentanten gegenüber sehen, sind unterschiedlich in Art und Umfang. Ihre Entscheidungen haben deshalb sehr unterschiedliche zeitliche und räumliche Reichweite. Über eine Diätenerhöhung zu entscheiden ist nicht zu vergleichen mit einer Entscheidung zur Impfpflicht oder zum Ausstieg aus der Atomenergie.
Dass das Wahlvolk überhaupt den Anspruch, besser: den Glauben haben kann, dass ihm Repräsentanten alle, alle, alle Entscheidungen abnehmen sollten, ist mir ein Rätsel. Das Wahlvolk entmündigt sich in der repräsentativen Demokratie mindestens auf Zeit. Aber angesichts der real existierenden alternativfreien Astronautenpolitik scheint mir die Selbstentmündigung der Dauerzustand.
Verbesserungsvorschlag
Entscheidungen größerer Tragweite müssen von den Repräsentanten aktiv abgewiesen und an das Wahlvolk übergeben werden. Schon aus Gründen der Bescheidenheit und des Selbstsschutzes halte ich das für geboten. Eine so fundamentale Entscheidung wie zur Impfpflicht sollte kein winziges Universalgremium wie der Bundestag auf sich nehmen.
Nicht nur sollte das Wahlvolk also sich Volksentscheide erkämpfen dürfen, wenn es meint, gefragt werden zu wollen. Volksentscheide sind eine Förderung von echter Demokratie.
Nein, ein Wahlvolk sollte auch zum Volksentscheid gezwungen werden können. Solche Grundlagenentscheide wären eine Forderung zur echten Demokratie.
Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Das, was Demokratie herstellen und erhalten soll — Freiheit, Wohlstand —, muss jeden Tag aktiv erarbeitet werden. Dem darf sich kein Wähler je entledigen können. Wer Wähler sein will, muss in der Verantwortung bleiben.
Geburtsfehler III: Förderung von Abhängigkeit
Der repräsentativen Demokratie eingeschrieben ist die Abhängigkeit. Wähler machen sich abhängig vom guten Willen der Repräsentanten. Die Wahl trägt die Botschaft in sich “Lehn’ dich zurück und lass andere für dich entscheiden. Sie werden dich in ihre Fürsorge wohlwollend einbeziehen.”
Dass die Repräsentanten diesen Anspruch erfüllen (wollen), werden sie rechtzeitig zu jeder Wahl bekräftigen. Außerdem haben sie unterperiodisch auch noch ein viertel Ohr am Wahlvolk, um auf Unzufriedenheit zu horchen, die sich bei der nächsten Wahl plötzlich zeigen könnte. Deshalb sind Repräsentanten darauf bedacht, der Fürsorgeerwartung auch nachzukommen.
Repräsentative Demokratie führt zwangsläufig zu einem Fürsorgestaat.
Wenn nicht alle Fürsorgeerwartungen erfüllt werden können — Beispiel: sichere Rente —, dann werden besser erfüllbare Fürsorgeerwartungen geweckt — Beispiel: Infektionsschutz, Terrorismusschutz. Der Repräsentant braucht die kontinuierliche Legitimation durch Erfüllung seines Fürsorgeauftrags.
Dass der Wähler Fürsorge durch Verteidigung Deutschlands am Hindukusch empfindet, ist unwahrscheinlich. Also braucht es greifbarere Fürsorge, z.B. die direkte durch mehr Arbeitsschutz oder Gesundheitssystemschutz oder die indirekte durch Rettung von Unternehmen oder Industrien, weil die Arbeitsplätze bieten.
Das Problem des (heran)wachsenden demokratischen Fürsorgestaates ist, dass Fürsorgebedürfnis grundsätzlich unersättlich ist. Durch Fürsorge werden Mühe und Risiko reduziert. Das bedeutet, Selbstverantwortung wird reduziert. Das bedeutet über Kurz oder Lang, die Fähigkeit zur Selbstverantwortung wird untergraben. Das bedeutet, die Abhängigkeit vom Staat wird vergrößert. Das bedeutet, die Fürsorgeerwartung wächst.
Fürsorge zu versprechen, ist heikel. Wer das tut, muss wissen, worauf er sich einlässt. Das wissen alle Eltern — und sind froh, dass die Fürsorge nach 18 Jahren (pro Kind) auch mal ein Ende hat. Oder zumindest haben sollte.
Für eine überschaubare Weile oder gelegentlich fürsorglich zu sein, fühlt sich zwar gut an. Es ist ein menschliches Bedürfnis, dem anderen etwas Gutes zu tun. Es ist auch sehr erfüllend, ein Kind fürsorglich beim Heranwachsen beizustehen. Doch das Ziel von Fürsorge sollte immer sein: nur Hilfe zur Selbsthilfe für eine begrenzte Zeit zu bieten. Und auf der empfangenden Seite sollte Fürsorge den Willen stärken, schon bald ihrer nicht mehr zu bedürfen.
Der Fürsorgestaat jedoch kennt solche gesunde, natürliche Fürsorge nicht. Für ihn ist ja kontinuierliche und sich ausdehnende Fürsorge Legitimation.
Dieses Missverständnis ist teuer. Auf die Dauer sogar zu teuer. Kein Staat kann sich stetig wachsende Fürsorge leisten. Fürsorge ist ein Geist, den die repräsentative Demokratie gerufen hat, aber nicht mehr los wird. Die fürsorglich geförderte Abhängigkeit als Geburtsfehler ist gleichzeitig ihre Krankheit zum Tode.
Verbesserungsvorschlag
Wenn die repräsentative Demokratie schon auf Wahlen beharren will, die auf Dauer nur in Forderungen nach Fürsorge enden können, weil Fürsorge Wählerstimmen bringt, dann kann sie gegensteuern durch Beschränkung der Wahlberechtigung.
Es hat lange gedauert, bis ein allgemeines und gleiches Wahlrecht heutiger Gestalt errungen war. Es scheint, als sei damit der Gipfel der Demokratie erreicht, dass alle Staatsbürger gleichzeitig Wähler sind: ob jung oder alt, Frau oder Mann oder auch etwas anderes, ob arm oder reich… alle, alle dürfen Wählen.
Dass das nie von den Demokraten der Amerikanischen Verfassung gewollt war, dass so nicht die Demokratie im antiken Griechenland funktioniert hat, scheint niemanden zu stören. Oder im Gegenteil? Die moderne Welt will sich nicht mit dem bescheiden, was die Altvorderen gemacht haben; sie meint zu wissen, wie Demokratie noch richtiger geht.
Aber was, wenn das ein Trugschluss ist? Vielleicht steckte eine Weisheit in der Demokratie der Altvorderen, die die moderne Demokratie leichtfertig über Bord geworfen hat?
Was war das Entscheidende an der früheren Demokratie? Dass nur Männer wählen durften? Oder dass keine Sklaven wählen durften?
Mir scheint, die tiefere Erkenntnis der früheren Demokratien war, dass nur Unabhängige wählen durften.
Dass früher vor allem Männer vermögend und unabhängig waren, ist den Zeiten und Sitten geschuldet. Das ist heute anders. Deshalb sollte das Wahlrecht auch nicht auf das Geschlecht schauen. Oder auf das Alter. Oder auf die Herkunft oder die Religion oder den Beruf.
Mir scheint, radikale Demokratie, d.h. Demokratie, die an ihre Wurzeln zurückgeht, sollte das Wahlrecht wieder beschränken auf die, die unabhängig sind.
Nur, wer nicht abhängig ist vom Staat, darf wählen. Das könnte ich sogar auf Geschäftsführer beziehen, deren Unternehmen von staatlicher Unterstützung abhängig sind. Und sollten vielleicht auch Beamte vom Wahlrecht ausgeschlossen werden?
Solange sichergestellt ist, dass Abhängige die Möglichkeit behalten, sich in die Unabhängigkeit hinein zu entwickeln, ist eine Begrenzung der Wahlberechtigung eine Befreiung der Demokratie.
Wenn Abhängige wählen dürfen, wählen sie verständlicherweise so, dass ihre Abhängigkeit nicht gefährdet ist. Abhängigkeit bedeutet — nicht immer, aber öfter als es gut ist — Bequemlichkeit. Wenn diese Bequemlichkeit durch ein Wahlkreuz ausgedehnt, gar vergrößert werden kann, warum nicht?
Doch das führt in die Unbezahlbarkeit. Die Förderung von Abhängigkeit kann sich kein Staat leisten.
Wenn Abhängige also kein Interesse daran haben, so zu wählen, dass sie ihrer Abhängigkeit entkommen können, dann sollten Abhängige nicht wählen.
Damit will ich kein moralisches Urteil fällen. Abhängigkeit ist eine legitime Lebenshaltung. Wer die Abhängigkeit vom Staat vorzieht, soll in ihr verharren. Nur soll er eben dann auch keine Wahlstimme mehr haben. Das halte ich für einen Anreiz, sich aus der Abhängigkeit heraus zu bewegen.
Niemandem ist in der Abhängigkeit ja etwas versagt. Wer abhängig ist, darf (und soll) konsumieren, soll arbeiten (oder auch nicht), soll lernen, Spaß haben, Kinder zeugen (oder auch nicht).
Wer abhängig vom Staat ist, hat volle Freiheit — darf nur nicht wählen. Ganz einfach.
Wem das gefällt, der lebt so weiter in der Abhängigkeit. Wem das nicht gefällt, dem stehen alle Mittel der Gesellschaft zur Verfügung, auch die, von denen er abhängig ist, um sein Los zu verbessern. Sobald die Unabhängigkeit erreicht ist, wird die Wahlberechtigung erteilt.
Wir halten Menschen für unterschiedlich zurechnungsfähig. Drogenkonsum oder Krankheit oder sogar auch nur emotionale Zustände wirken sich auf ihre Entscheidungsfähigkeit aus. Das berücksichtigt das Strafrecht oder die Medizin.
Für das Wahlrecht kennen wir allerdings keine Unterscheidung. Jeder und jede darf wählen. Nur das Alter hat eine gewisse Auswirkung.
Aber warum ist das so? Ich halte das bei näherer Betrachtung für unlogisch.
Wir sollten Alter von Mündigkeit entkoppeln. Und worin drückt sich Mündigkeit aus, also die Kompetenz sein eigenes Leben selbstbestimmt zu führen? In Unabhängigkeit.
Klar, manche sind abhängig vom Alkohol, ihrem Hund, ihrer Frau, dem Arbeitgeber. Abhängigkeiten sind allgegenwärtig. Doch die meine ich nicht. Für die Wahl von Repräsentanten, die die Staatsgeschäfte führen, ist allein die Abhängigkeit vom Staat ausschlaggebend.
Wer Geld vom Staat bekommt, um sein Leben führen zu können, ist abhängig vom Staat. Das ist keine Schande. So etwas kann jedem passieren — hoffentlich nur temporär, leider manchmal auch dauerhaft. Doch sobald Abhängigkeit eintritt, sollte die Wahlberechtigung entzogen werden. Wie gesagt: Das ist kein moralisches Urteil. Wer abhängig ist, ist kein schlechter Mensch; wer unabhängig ist, ist kein guter Mensch. Es braucht nur eben eine gewisse Voraussetzung, um zu einem demokratischen Gemeinwesen mit einer Stimmabgabe beizutragen. So, wie es für den Besuch eine Restaurants oder der Oper auch Voraussetzungen hat, z.B. Geld oder eine gewisse Garderobe.
Was wäre der Nutzen?
Der Nutzen wäre, dass Repräsentanten nicht mehr darauf schielen müssten Abhängigen zu gefallen. Sie müssten sich nicht mehr auf Fürsorge konzentrieren. Das würde den Staat verschlanken und damit die Gesellschaft stärken.
Abhängige würden einen Anreiz bekommen, unabhängig zu werden. Das würde auch dafür sorgen, dass weniger für Fürsorge aufgewendet werden muss.
Der Verfall der repräsentativen Demokratie zu einem Fürsorgestaat — der letztlich sogar totalitär werden muss —, wäre aufgehalten. Hoffentlich.
Was wäre der Schaden?
Würden denn aber nicht die Unabhängigen, also die Wahlberechtigten dafür sorgen, dass immer mehr Menschen sich nicht aus der Abhängigkeit befreien können und weitere in sie hinein rutschen? Wenn die Zahl der Wahlberechtigten schrumpft, können die ungehinderter über ihr eigenes Wohl entscheiden.
Ja, das ist wohl eine Gefahr. Aber ist sie größer als die, die die repräsentative Demokratie darstellt, wenn sie weitermacht wie bisher? Ich glaube, es gibt eben auch eine Chance, dass es besser wird.
Oder ist die Gefahr gar nicht so groß? Denn letztlich sollte es im Interesse der noch Unabhängigen sein, ihre Unabhängigkeit zu erhalten und mehr Menschen aus der Abhängigkeit zu befreien. Eine wachsende Zahl Abhängiger wäre teurer und teurer auch für eine abnehmende Zahl Unabhängiger. Die Förderung von Abhängigkeit schaded auf Dauer den Unabhängigen; sie schneiden sich ins eigene Fleisch; ihre Situation wird prekär.
Schlussbetrachtung
Die real existierende Demokratie als Fassadendemokratie, steht an einem Wendepunkt. Sie kann nur entweder ihre Maske verlieren und offen zur Fürsorgediktatur werden. Oder… sie kann sich auf Reform besinnen: Gutes Erhalten und Schlechtes ersetzen.
Ich denke, die aktuelle Theorie der repräsentativen Demokratie ist weder perfekt noch alternativlos. Es geht besser. Ob es mit diesen Vorschlägen besser geht? You never try, you never know. Ich denke, einige Experimente wären sie wert.
Mir gefällt der Vergleich mit dem real existierenden Sozialismus sehr gut. Es ist eben eine Sache, wie etwas sein sollte und wie es am Ende ist.
Wenn ich der Idee der Demokratie grundsätzlich etwas Gutes unterstelle, muss ich sie dennoch weltweit als gescheitert sehen. Zu groß scheint die Versuchung, als Repräsentant persönliche Vorteile aus der Position zu ziehen und damit mehr an der Machterhaltung als an Menschen interessiert zu sein.
Aus meiner Sicht kann Demokratie nur funktionieren, wenn Repräsentanten rotieren und ein Bezug zur Region besteht. Die Rolle des Staates müsste auch näher betrachtet werden. Der Staat ist mir zu stark, bevormundend und einengend geworden. Das könnte sich aber durchaus mit deinen Vorschlägen auflösen.