Hast du dich schon einmal gefragt, ob deine Entscheidungen wirklich deine waren? Oder ergaben sie sich nur aus Erwartungen anderer oder dem Einwirken von Werbung? Wie viel von dem, was du meinst zu fühlen und zu brauchen, kommt tatsächlich von dir? Diese Fragen klingen möglicherweise trivial. Dennoch denke ich, dass sie es bei genauerer Betrachtung keinesfalls sind. Wir alle sind sehr verschieden. Was der eine Mensch als eine krasse Limitierung seiner Freiheit empfindet, ist für einen anderen gar nicht so schlimm. Dies scheint naturgegeben. Nietzsche sagt beispielsweise, dass es eine natürliche Einteilung einer Spezies in Herdentiere (Schafe) und Einzelgänger (Wölfe) gibt. Herdentiere fühlen sich in der Schar sicher. Für sie scheint es etwas Natürliches zu sein, zusammen zu halten, um sich in der Gemeinschaft geborgen zu fühlen. Nietzsche sieht es als biologische Gegebenheit, dass manche Menschen ängstlich geboren werden und sich einer Herde anschließen. Sie können nicht anders als Schutz in der Menge zu suchen. Daraus ergibt sich eine andere Moralvorstellung als bei einem Einzelgänger, der selbst Verantwortung übernimmt und Freiheit und Selbstbestimmung über den Zwang der Gemeinschaft stellt.
Nach Nietzsche hat die moderne westliche Moral ihren Ursprung in der Sklavenmoral der griechischen Antike. Nietzsche bezieht sich dabei vor allem auf die christlichen Moralvorstellungen, die Menschen dazu brachte, eine Art Herdentier-Moral anzunehmen. Diese stellt die Gemeinschaft bedingungslos über den Wert des Einzelnen. Diese Moralvorstellung ist selbstverständlich für den freiheitsliebenden, selbstbestimmten Menschen unerträglich.
In den letzten Jahren haben wir gesehen, wie tief diese von Selbstlosigkeit, Unterwürfigkeit und Mitleid geprägte Moral, die bereits seit Jahrhunderten in der Gesellschaft verwurzelt ist, ihre Blüte erreicht hat. Das Problem ist, dass diese Vorstellung selbstzerstörerisch und ambivalent ist. Sie leugnet sogar das eigene Ich. Ein gutes Beispiel für diese Ambivalenz im Verhalten und der Vorstellung von Freiheit ist die Sicht der Herde, wenn es um Freiheitsforderungen geht. Demonstrieren Menschen in Weißrussland für Freiheit, erwarten westliche Regierungen und ihre Untertanen von allen anderen, dass man sie supportet. Solidarität ist das Buzzword dieser Tage. Die Herde ist geradezu in der Lage selbst auf die Straße zu gehen, wenn es die Rechte und Freiheiten anderer betrifft. Denken wir nur an Black Lives Matter, Frauenrechte, Ukraine usw.
Aber sie empfinden es als verwerflich, ihre eigene Freiheit einzufordern. Es passt nicht in ihre von Unterwürfigkeit und Demut geprägte Moralvorstellung, sich gegen die eigenen Herrscher aufzulehnen. In den vergangenen Monaten war ich immer wieder darüber schockiert. Mich verwirrte dieses Verhalten, weil es vollkommen unnatürlich anmutet. Historisch betrachtet ergibt es allerdings Sinn. Menschen hinterfragen den Wert eines Wertes im Wertesystem nicht. Die Bemühungen von Erziehung und Ausbildung zielen stets darauf hin, Wertesysteme als gegeben hinzunehmen und nicht anzuzweifeln. Die vom Christentum konstruierte Vorstellung der selbstlosen Nächstenliebe, die auf Bescheidenheit, Erbarmen, Mitgefühl und Unterwürfigkeit beruhen, sind in den letzten Jahrzehnten in die moderne Gesellschaft eingeflossen und immens weiter verstärkt worden. Ich denke mehr noch, dass das Wertesystem in den vergangenen Jahren in einem rasanten Tempo weiterhin monolithischer wurde. Die verschobene Wertvorstellung der Schafe steht im unlösbaren Konflikt mit der Vorstellung vom selbstbestimmten Wolf, der das Erstrebenswerte in Freiheit, Wohlstand, Macht und Sinnlichkeit sieht.
Nahezu sämtliche gesellschaftliche Entwicklungen der westlichen Gesellschaft beruhen auf der Vorstellung der Herdentier-Moral, welche permanent Konformismus in jeder Sache einfordert. Unternehmen halten es in den letzten Jahren für nötig, moralisch zu allem Möglichen Stellung zu beziehen. Sie gehen Hand in Hand mit Regierungen und Politik. Konzerne wie Meta (Facebook) sind nicht in der Lage, zwischen der Sichtweise des Einzelnen und Fakten zu differenzieren. Sie maßregeln uns stetig, die “richtige” Meinung anzunehmen, indem sie uns auf Regierungsseiten verweisen, wenn eine Meinung eben nicht dem öffentlichen Narrativ und damit der Herdentier-Moral entspricht.
Wir wissen allerdings, es gibt nicht die eine Wahrheit, dafür viele Perspektiven. Was aber nun versucht wird, ist, dass wir alle dieselbe Perspektive einnehmen und damit allein eine Anschauung zulässig wird. Frei nach Nietzsche gilt auch hier, dass es keine absolut objektive Wahrheit gibt, sondern nur eine riesige Vielfalt von individuellen Betrachtungswinkeln. Diese ergeben dann die einzige Wahrheit. Demnach kann sich also kein Einzelner, aber eben auch keine Regierung oder Organisation anmaßen, im Besitz der Wahrheit zu sein. Aus diesem Grunde sind beispielsweise Faktenchecker absolut unnütz, aber eben der Manifestierung der Herdenmoral sehr dienlich.
Unsere Gesellschaft folgt dem erschreckenden Trend, allen Menschen denselben Verhaltenskodex vorzuschreiben. Damit verkommt die Gesellschaft zu einer homogenen Masse, in der es erstrebenswert scheint, gleich zu denken. Es hat eben nichts mit Loyalität einem Unternehmen oder der Regierung gegenüber oder mit Solidariät anderen Menschen gegenüber zu tun, bei allem bedingungslos mitzumachen, egal ob Stay home, Wear a mask, Support Black Lives Matter oder Stand with the Ukraine. Es spiegelt exakt die von Nietzsche beschriebene Moral der Sklaven wieder, die auf einem fehlerhaften und gefährlichen Wertesystem beruht, weil sie auf Gedeih und Verderb die Gruppe über das Individuum stellt.
Nicht nur Regierungen, Staaten und Politiker spielen dabei eine wichtige Rolle, sondern leider auch Konzerne und größere Unternehmen. Ja, sie sind nichts anderes als eine moderne Form, eine Herde zu organisieren, zu steuern und zu nutzen. Es sind die Orte, an denen sich die Sklaven der heutigen Zeit versammeln. Sie sind quasi die Missionare der Neuzeit, um die Moralvorstellungen von Unfreiheit, Gleichgesinntheit und Unterwürfigkeit zu etablieren. Eine Schafsherde funktioniert ja auch nur, wenn sie gemeinsam in dieselbe Richtung läuft. Quertreiber werden gebrandmarkt und aussortiert. Ein Konzern ist kein Platz für freie Gedanken, in dem sich lebensbejahende, kreative Kräfte entfalten können. Man gibt sich selbst zwar gerne offen, tolerant und bunt. Das aber eben nur in den Grenzen der eigenen, dem Selbstzweck dienlichen Moralvorstellung der schützenden Gemeinschaft, die nichts mehr verachtet als diejenigen, die aus der Reihe tanzen. Ruft der Konzern den neuesten Slogan aus, um irgendwas, was nichts mit dem Unternehmenszweck zu tun hat, zu supporten und die moralischen Erwartungen zu erfüllen, sollte jeder in den Kanon einstimmen, um nicht unterzugehen.
Die Pandemie-Spiele der letzten beiden Jahre haben mir gezeigt, dass die Erkenntnisse von Nietzsche in Bezug auf die Einteilung der Menschen in Herdentiere und Einzelgänger sehr treffend ist. Er spricht von zwei diametral gegensätzlichen Auffassungen der Herrenmoral und Sklavenmoral. Wir können es auch Wölfe und Schafe, Einzelgänger und Herde oder etwas moderner in Macher und Mitmacher unterteilen. Es läuft auf dasselbe hinaus.
Es können gerne unterschiedliche Vorstellungen von Moral existieren, solange nicht die eine so viel Oberhand gewinnt, um die andere zu unterdrücken oder zu missachten. An dieser Stelle werden mir mit Sicherheit viele zustimmen. Dennoch ist der unerträgliche Fall in den letzten Jahren eingetreten, dass die Herdentier-Moral unübersehbar wurde und die freien menschlichen Geschöpfe gezähmt, gefangen und die Herde eingegliedert werden sollten. Diese erbärmliche Scheinmoral, du sollst dich unterordnen, mitmachen und dich selbst aufgeben, um andere zu schützen, war nicht zu übersehen. Die Moralkeule auch. Jeder, der nicht teilnahm, galt als verantwortungslos und sein Handeln als unmoralisch.
Wer sicher den Charakter von Wölfen näher angeschaut hat, wird schnell bemerkt haben, dass dieser Eigenschaften besitzt, die das gemeine Herdentier nicht oder nur unausgeprägt hat: Stolz, Lebensbejahung, Selbstbestimmung, Selbstliebe, Loyalität, Mut und natürlich einen freien, ungebändigten Geist.
Deswegen: Mitmachen war für mich keine Option und wird auch nie eine sein.
Ich finde es wichtig, zwischen Christentum und dem Mystiker Jesus zu unterscheiden. Das Christentum als Ideologie hat geholfen, Herden zu schaffen und zu lenken. Jesus, auf dessen vergöttlichte Form Christus es sicht beruft, hat jedoch das Gegenteil gepredigt. Deshalb (!) war er auch Römern wie Juden unzugänglich bis verhasst. Jesus ging es um das Individuum, das Erwachen des Bewusstseins, die Verantwortlichkeit. Wie perfide also, was die Politisierung daraus gemacht hat: eine Botschaft der Unterordnung.