Die Rentenversicherung: Ein Missverständnis
“Die Rente ist sicher!” verkündete 1986 Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Damit meinte er, dass die Deutsche Rentenversicherung “ein Leben lang” für alle Beitragszahler verlässlich im Rentenfall so viel zahlen würde, dass niemand Armut befürchten müsse.
Ja, das ist eine schöne Vorstellung. Eine Vorstellung, die einem reichen Land wie Deutschland würdig ist. Aber ist es auch eine realistische Vorstellung? War sie je realistisch? Kann sie in Zukunft realistisch sein? Ich glaube, nicht. Die Rentenversicherung war immer auf Sand gebaut. Von einer Rentenlüge möchte ich nicht sprechen, aber zumindest von einem Missverständnis. Das betrifft den Begriff “Versicherung” in der Bezeichnung Rentenversicherung.
Ob nun Bismarck weiland die Rentenversicherung aus Fürsorge und Edelmut oder schlicht aus Berechnung zur Befriedigung der Arbeiterschaft und zur Stärkung der Wehrkraft des Deutschen Reiches ins Leben gerufen hat, will ich dahingestellt lassen.1 In jedem Fall war die Rentenversicherung zu Beginn so ausgelegt, dass nur wenige Beitragszahler je davon länger etwas haben konnten: Das Renteneintrittsalter war auf 70 Jahre gesetzt, die Lebenserwartung betrug jedoch nur knapp 40 Jahre. Ein Schelm, wer dahinter Berechnung sehen würde.
Nein, mein Punkt ist ein anderer: Hat es sich eigentlich je um eine Versicherung gehandelt, wie es Krankenversicherung, Berufsunfallversicherung oder Feuerschutzversicherung gab? Ich meine, nein. Die Rentenversicherung ist keine Versicherung — und das ist ihr Geburtsfehler.
Im Begriff “Versicherung” steckt Sicherheit, Verlässlichkeit, geradezu Garantie. Wer würde das nicht wollen für sein Alter. Warum also nicht das Erfolgsmodell Versicherung auf die Versorgung nach der Erwerbstätigkeit anwenden?
Keine Versicherung
Versicherungen funktionieren, weil sie ein kleines Risiko für den Einzelnen auf die Schultern vieler verteilen. Beispiel Berufsunfallversicherung: Dass das Leben durch einen Unfall massiv und dauerhaft eingeschränkt wird, ist möglich, aber hat eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen. Wie vielen Menschen passiert ein gravierender Berufsunfall? Im Jahr 2021 waren das ca. 3 von 10.000 Beschäftigten. Auf ein Arbeitsleben von 40 Jahren gerechnet, ist die Wahrscheinlichkeit eines gravierenden Arbeitsunfalls also ca. 0,012 oder 1,2% im Durchschnitt.2 98,8% aller Arbeitenden erleiden also nie einen gravierenden Arbeitsunfall. Das ist die entscheidende Zutat dafür, dass eine Berufsunfallversicherung funktioniert: Die allermeisten Beitragszahler werden nicht zum Versicherungsfall. Dasselbe macht den Erfolg einer Feuerversicherung oder KfZ-Versicherung aus.
Versicherung funktioniert, wenn die Zahl der Versicherungsnehmer hoch und die Zahl der Versicherungsfälle je Versicherungsnehmer sehr klein ist. Dann steht die ganze Solidargemeinschaft der Versicherungsnehmer problemlos für die wenigen Schicksalsgebeutelten in ihr ein.
Versicherungen sind eine zivilisatorische Meisterleistung! Sie beflügeln die Gemeinschaft. Sie schützen den Einzelnen. Sie sind eine Werkzeug, um die non-ergodicity des Lebens abzufedern.
Ergodicity is where system probability outcomes are the same, regardless of whether many system participants engage the system simultaneously or whether one participant engages the system over time.
Ein einzelnes Leben kann über die Zeit durch Unfälle oder Fehlentscheidungen eine sehr schlechte Wendung bis hin zu Tode nehmen. In ganz vielen gleichzeitigen Leben ist das jedoch eine Seltenheit. Das nutzen Versicherungen aus. Sie funktionieren analog zu einer Diversifizierung eines Aktienportfolios.
Die Rentenversicherung ist allerdings keine Versicherung in diesem Sinn. Warum?
Der offensichtliche Unterschied ist, dass der Versicherungsfall kein Sonderfall ist. Die Rente ist kein Unfall, sondern Absicht. Alle Rentenzahler haben das Ziel, den Versicherungsfall auszulösen. Ein hohes Alter in Gesundheit sei ihnen auch gegönnt — doch das steht im Widerspruch zum Prinzip der Versicherung. Die Versicherung soll gegen unwahrscheinliche Schicksalsschläge schützen. Wenn der Rentenfall kein Schicksalsschlag für den Einzelnen ist (sondern höchstens für die Deutsche Rentenversicherung), dann ist “Versicherung” der falsche Begriff für die angestrebte Absicherung.
Der zweite, vielleicht subtile Unterschied ist, dass in der Rentenversicherung der Rentenzahler nichts, aber auch gar nichts für sich tut. Was er einzahlt, kommt ihm selbst nicht zugute. Die eigene Rente wird dermaleinst von den dann noch Arbeitenden gezahlt. Damit ist die Rente von der demographischen Entwicklung abhängig — und das ist in heutigen Zeiten kein Erfolgsrezept.
Für mich sieht die Rentenversicherung weniger wie eine Versicherung als vielmehr wie ein Ponzi Scheme aus:
„A Ponzi scheme can maintain the illusion of a sustainable business as long as new investors contribute new funds“
Solange unten in der Bevölkerungspyramide noch eingezahlt wird, kann in ihr oben Rente abgeschöpft werden. Doch wenn einmal die Einzahlungen abnehmen oder zusammenbrechen… dann geht oben das Licht aus. Dann fliegt auf, dass niemand oben etwas für sich selbst getan hat; alle haben vielmehr darauf gebaut, dass es weitere “Dumme” gibt, die auch an das System glauben und die heiße Kartoffel der Rentenzahlung an nachfolgende Rentenzahlergenerationen weiterreichen.
Die Krankenversicherungen leiden durchaus auch unter diesem Problem. Krankheit ist kein kurzer Schicksalsschlag mehr, der entweder zur Genesung oder zum baldigen Tod führt, sondern ein zunehmend wahrscheinlicher und lang anhaltender Zustand. Die gestiegene Lebenserwartung macht aus allen Krankenversicherungspflichtigen früher oder später Dauerversicherungsfälle. Nichts anderes sind die “Vulnerablen” in der Corona-Pandemie gewesen. Auch das widerspricht der Idee der Versicherung.
Und so ist es kein Wunder, dass das Gesundheitssystem nicht nur in Deutschland zunehmend in Schieflage gerät. Die Ansprüche steigen schneller als die Beiträge. Um zu befürchten, dass eine Überlastung eintritt, braucht es keine Corona-Pandemie. Die Überlastung ist schon lange notorisch.
Wider die Natur
Mir kommt gerade die Rentenversicherung aber nicht nur im Widerspruch zur Versicherungsidee vor, sondern auch im Widerspruch zur Natur. Wo in der Natur versorgen die Jungen die Alten über lange Zeit? In Deutschland ist eine Rentendauer von 20 Jahren (Alter von 65 bis 85) keine Seltenheit; das bedeutet, über 23% des Lebens werden alte Menschen von jungen erhalten. Sie tun nichts mehr für ihren eigenen Lebensunterhalt; sie ruhen sich aus auf ihren Leistungen, die ihnen qua Rente vergolten werden.
Das kling paradiesisch wie früher die Vorstellung vom Schlaraffenland.
Doch ist eine solche Vorstellung realistisch? Ist sie überhaupt fair? Dass man den kurzzeitig Beeinträchtigten hilft, ist sicher ein für die Gemeinschaft evolutionär vorteilhaftes Prinzip. Oder auch den längerfristig Beeinträchtigten kann geholfen werden, wenn es nur wenige sind; das stärkt die Gemeinschaft mehr, als es sie belastet.
2020 betrug die Zahl der Rentner allerdings ca. 26 Millionen bei ca. 83 Millionen Bevölkerungsstärke. Die Dauerunterstützten haben also den nicht unbeträchtlichen Anteil von 31% ausgemacht. Das halte ich für widernatürlich.
Noch schlimmer wird es 2030 sein: Es werden 100 Beitragszahlern ca. 96 Rentner gegenüberstehen! Jeder Rentner hat dann sozusagen einen persönlichen Beitragszahler als “Rentenpate”.
Entspricht das der Idee einer Versicherung? Nein.
Früher, ja, früher (und heute auch noch in fernen Weltgegenden) haben die Menschen sich auch auf die nachfolgenden Generationen — ihre Kinder und Enkel — verlassen, um im Alter Unterstützung zu bekommen. Nicht umsonst ist die Geburtenrate in armen Ländern auch heute immer noch hoch: Es sollen angesichts signifikanter Säuglingssterblichkeit noch genügend Kinder übrig bleiben, um den Eltern und Großeltern später unter die Arme zu greifen.
Zwei Unterschiede zum Anspruch der Rentner in Wohlstandsstaaten wie Deutschland sind allerdings offensichtlich:
Die Alten lehnen sich nicht zurück und lassen die Jungen sie einfach versorgen. Nein, die Alten arbeiten mit, so lange und so gut es irgend geht. Einen Ruhestand, wie ihn sich deutsche Rentner meinen verdient zu haben, also Jahre, gar Jahrzehnte der Inaktivität für den Lebensunterhalt, kennt die Natur nicht und kennen auch “ursprüngliche” Gesellschaften nicht.
Die Unterstützung der Jungen für die Alten währt verhältnismäßig kurze Zeit. Umso kürzer, je weniger die Alten noch fähig sind, mitzuhelfen. Pulling your own weight ist ihr Anspruch bis zum Schluss, auch wenn das immer schwieriger wird. Das ist auch eine Frage der Würde. Eine Hängematte, selbst eine, die scheinbar über Jahrzehnte des Einzahlens in die Rentenversicherung aufgespannt worden wäre, kennen “ursprüngliche” Gesellschaften nicht.
Aber kann denn eine Wohlstandsgesellschaft nicht auch in dieser Hinsicht über arme, “ursprünglich” hinaus wachsen? Ja, sie kann und soll es besser machen. Echte Versicherungen sind dafür ein Beleg.
Doch die sog. Rentenversicherung widerspricht aus meiner Sicht einfach den natürlichen Prinzipien des Lebens und auch denen von gesunden, gar nachhaltigen Gemeinschaften. Vorsorge fürs Alter, die selbstverständlich erstrebenswert ist, funktioniert so nicht nachhaltig/verlässlich. Die Rente war ursprünglich ja auch anders gedacht — nur hat die Politik über ein Jahrhundert nichts dafür getan, das Missverständnis, das in der Bevölkerung entstanden ist, aufzuklären. (Oder die Politik hat es sogar insb. nach dem 2. Weltkrieg noch geschürt.)
Eine Gesellschaft, in der die Jungen von den Alten in die Pflicht genommen werden, ohne gefragt zu werden, ohne ihnen wirklich eine Alternative zu bieten, die ist nicht fair. So sieht keine Generationensolidarität oder Generationengerechtigkeit aus. Die Jungen sind nicht frei; man “shanghait” sie, um den Alten zu dienen, die sich in eine Abhängigkeit zu ihnen gearbeitet haben.
Die Nachfolgenden die eigene Rente bezahlen zu lassen, ist ja auch viel bequemer. Wer sich selbst um seine Altersvorsorge bemühen muss, könnte jetzt nicht so viel konsumieren. Der kann sich auch nicht so verausgaben für die Arbeit. Wer aus eigener Kraft lange gesund bleiben will, um sich selbst versorgen zu können — ob mit Früchten aus dem eigenen Garten oder durch Arbeit für andere —, muss sich seine Kräfte einteilen. Einem “I love Genuss sofort” Paradigma läuft das zuwider.
Es gilt, auf sein Vermögen im umfassenden Sinn zu achten; dafür muss man kluge Investitionen tätigen. Finanzen wie Kompetenzen und Fähigkeiten wollen aufgebaut und gepflegt werden.
Doch die Suggestion einer abgesicherten Rente scheint das überflüssig zu machen. Selbsterhalt nicht nötig. Die Jungen werden schon die Alten versorgen. Und so atrophiert der Rentenbeitragszahler ein ganzes Arbeitsleben lang bis zur Unfähigkeit. Und wenn nicht bis zur Unfähigkeit, dann bis zum Unwillen. Die Rente ist schlicht verdient, jawoll. Aufhören mit 63, 65, 67, demnächst 70 ist ein Recht.
Das halte ich für eine gesellschaftlich zerstörerische Haltung. Dazu kommt der Sinnverlust, der viele nach Renteneintritt beutelt. Über Jahrzehnte haben sie sich durch ihre Arbeit und die Beziehung zu Kollegen und Kunden definiert — und dann ist das von einem Tag auf den anderen vorbei? Das verdauen nicht alle gut. Für mich ein Hinweis darauf, dass irgendetwas nicht stimmt an diesem Modell. So ist das in “ursprünglichen” Gesellschaften nicht.
Warum gibt es einen “Zwang zur Rente”? Warum arbeiten Menschen nicht einfach so lange sie mögen — oder müssen, um sich selbst zu versorgen? Wenn der eine mit 56 aufhören will, soll er sich bis dahin gern anstrengen, um genügend anzusparen. Wenn die andere lieber ihr Geld ausgibt und dafür bis zum Lebensende arbeiten will, dann sei ihr das auch gegönnt. Ist Deutschland kein freies Land für erwachsene Bürger?
Allerdings sollte sich jeder bewusst sein, dass das persönliche Lebensarbeitszeitziel nicht zwangsläufig erreicht wird. Dafür muss einiges getan werden. Wer früh aufhören will, muss finanziell vorsorgen. Wer lange arbeiten will, muss körperlich und geistig vorsorgen. Vorsorge, persönliche, individuelle Vorsorge, ist das A und O.
Einer auf Ausbeutung gepolten Gesellschaft taugt ein solcher Ansatz natürlich nicht. Sie will, dass alle hier und jetzt konsumieren. Konsumverzicht für jede Form von Vermögensaufbau, ist keine Tugend.
Außerdem: Was soll aus den ganzen Ehrenämtern werden, die Rentner ausfüllen? Dafür müsste plötzlich bezahlt werden. Oder wäre das gar nicht so plötzlich? Nein, denn auch heute wird Ehrenamt entlohnt: durch die Rentenbeitragszahler, die die Rente derjenigen finanzieren, die die Ehrenämter während der Rentenzeit besetzen.
Was also die jungen Rentenbeitragszahler alles leisten…! Das ist keine Versicherung, das ist pure Umverteilung. Die Rente als Steuer, wäre für mich eine ehrlichere Sichtweise. Rentensteuer statt Rentenversicherung.
Wenn dieser Tage über mehr Nachhaltigkeit für Umwelt und Klima gesprochen wird, dann fände ich es allerdings auch konsequent und noch viel naheliegender, über Nachhaltig in der ganz persönlichen Lebensgestaltung zu sprechen.
Was auch immer in einer Zeit abnehmender und gar fehlender Erwerbstätigkeit den Lebensunterhalb absichern soll, muss entweder als Versicherung auf den Sonderfall abzielen oder für den Regelfall aus eigenem Vermögen stammen. Was nicht aus körperlichem/geistigen Vermögen erworben werden kann, kommt dann eben aus finanziellem. Das ist keine Kleinigkeit. Doch wer alt werden und sich in eine Hängematte legen will, muss eben einen Preis zahlen. Wäre das nicht gerecht?
Die Gemeinschaft für einen solchen Regelfall einzuspannen, ist nicht solidarisch gedacht. Eine temporäre Überbrückung kann und will sie zwar leisten. Unabsehbar jedoch auszuhalten, ist nicht ihre Aufgabe. Das Schlaraffenland sollte eine Utopie bleiben, wenn es kein böses Erwachen der einen oder anderen Art geben soll. Schluss also mit dem Missverständnis. Die Rentenversicherung ist keine. Sie ist eine zunehmend ineffektive Belastung, die einer echten Lösung und einem fairen Generationenverhältnis im Wege steht.
Ein differenziertes Bild zeichnet z.B. Mythos "Bismarcks Sozialpolitik": Akteure und Interessen der Sozialgesetzgebung im Deutschen Kaiserreich, Stephan Zick
Büroangestellte haben hier sicher eine deutlich niedrigere Wahrscheinlichkeit als z.B. Arbeiter im Hochbau oder Stahlwerker.